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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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noch einen Eisbecher, den sie sich teilten. Er war der Meinung, dass ein Eisbecher allen Kummer heilen konnte, egal wie alt man war.
    Am Gartentor von Naurulokki setzte er sie nur ab. Er hatte es eilig, pünktlich bei seinem Vortrag in Rostock zu sein.
    „Du kannst ja der Form halber drüber schlafen. Spätestens übermorgen sagst du mir Bescheid, ja? Dann schicke ich dir den Vertrag.“ Er umarmte sie fest, hupte zum Abschied, dann blieb von ihm nur eine Staubwolke auf dem Weg.
    Carly lehnte sich auf das Tor, betrachtete Naurulokki im Nachmittagslicht.
    Es sah aus, als würde es auf sie warten.
    Hoffentlich ist er wenigstens nett zu dir, dieser Der-Freund-vom-Herrn-Schnug, dachte sie. Ich werde dich nicht beschützen können.

    Sie setzte sich an ihren Computer, öffnete ihr Blog.
    „Ich habe wieder eine Zukunft. Einen festen Job! Meinen Traumjob. Dachte ich mal. Aber als ich davon träumte, wusste ich nicht, dass ich mich verlieben würde. In eine Landschaft. In ein Meer. In ein Haus. Ein wenig in einen verschwundenen Mann, den ich nie gesehen habe.
    Als ich herkam, waren meine Wurzeln schon hier. So verrückt das klingt, so wahr fühlt es sich an. Joram schrieb von dem Unterschied zwischen Alleinsein und einsam sein. Genauso geht es mir. Hier bin ich glücklich allein, mit dem Meer und dem Wind, nie so einsam wie in Berlin zwischen all den Menschen.
    Nun, Thore hat recht. Ich kann wiederkommen – wenn auch nur als Gast. Als Fremde.“

    Carly klappte den Computer zu. Ihre Kopfschmerzen wurden schlimmer. Sie musste raus. Hastig lief sie nach oben, griff ihre Jacke – Hennys Jacke –, die sie aufs Bett geworfen hatte. Sie wollte in den Wald, wo es still und grün war.
    War da eine Bewegung gewesen, in dem Bernsteinschiff auf der Fensterbank? Oder nur ein Wolkenschatten von draußen, der sich auf der schimmernden Oberfläche spiegelte wie so oft?
    Nein, keine Wolken. Es war wie an dem Tag im Bus. Neben Carlys Gesicht spiegelte sich ein zweites. Nur diesmal kannte sie es.
    Henny.

Henny
1999

33. Die Kraniche
     

    Zärtlich staubte Henny das kleine Schiff ab, das so viele Jahrzehnte auf ihrer Fensterbank gestanden und ihren Schlaf bewacht hatte. Es war durch ihre Träume gefahren, mit ihr und ohne sie. Nie wurden seine Segel müde, stets fand es einen neuen Wind, der es zuversichtlich vorwärts trieb. Wäre Joram damals nicht gewesen, auf dem Friedhof, hätte sie es beerdigt und es wäre längst in lichtloser Erde zerfallen. So aber brachte es noch jeder Sonnenstrahl zum Schimmern, und manchmal richtete sie nachts die Taschenlampe darauf und dachte an Joram, an sein Lachen und an seine Hände, die so behutsam mit allem umgingen, was sie berührten, als wäre alles zerbrechlich.

    Das Schiffchen trug nun dreifache Fracht: ihre Liebe zu Nicholas und die zu Joram, ebenso wie die zu Naurulokki und der Landschaft, in der sie ihr Leben verbracht hatte. Es war ein gutes Leben gewesen, voller Farben und Formen, deren Zauber sie auf Papier gebannt und immer wieder neu geschaffen hatte, voller Wind, Weite, Wellenmusik und auch Stille, wenn sie sich danach sehnte. Und unter Naurulokkis altem Reetdach war sie jederzeit geborgen gewesen, gleich welche äußeren und inneren Stürme über sie hereinbrachen.
    Henny wickelte das Bernsteinschiff in Seidenpapier und steckte es zusammen mit ihrem Testament in einen Umschlag, auf den sie eine Ecke des Daches mit Schwalben gezeichnet hatte. Sie wusste wohl, wie sehr Thore das Schwalbenbild geliebt hatte. Damals. Nachdem die DDR die Grenze dicht gemacht hatte, verloren sie den Kontakt zueinander. Viel später einmal hatte Thore ihr eine Schachtel wundervoller Farben geschickt. Man sah, dass das Paket geöffnet worden war, und die Stasi hatte die Farben Gold und Silber aus dem Kasten genommen. Henny hoffte, dass die Kinder des Stasi-Mannes sich gefreut hatten. Ihr machte es nichts aus. Das Silberglänzen auf dem Meer und das Gold auf dem Strandhafer bei Sonnenaufgang konnte auch die Stasi nicht unterschlagen. Henny hatte, was sie brauchte.

    Nach dem Mauerfall hatte Thore sie noch einmal besucht. Jetzt war er Wissenschaftler, ganz und gar, und ein Mann von Welt, und würde kein Interesse am abgelegenen Naurulokki haben. Und doch liebte er die Erinnerung daran genug um dafür zu sorgen, dass es in gute Hände kam, dessen war sich Henny sicher. Sie sah ihn noch vor sich, wie er als Junge mit dem Bernsteinschiff gespielt hatte und wie er mit großen Augen durch das Teleskop blickte, mit

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