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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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ausholenden Gesten seiner schlaksigen Arme Geschichten über die Sterne erfand. Ein bisschen war er wie Joram, nur eiliger, hektischer, weniger konzentriert aber viel kontaktfreudiger. Stolz war sie auf ihn, wie viel mehr als sie er jetzt über die Sterne wusste.
    Ja, er würde für Naurulokkis Zukunft sorgen. Und Naurulokki selbst würde ebenfalls bewirken, dass das Richtige geschah. Henny war sich sicher, dass das Haus eine Seele hatte und sich zu helfen wusste. So viele Stürme waren durch das Reet gefahren und hatten so vieles von nah und fern erzählt, dass es weise geworden war. Das Reet barg auch die Spuren der Menschen, die unter ihm gelebt hatten: die Stimmen, das Lachen und die Träume, die Sehnsüchte, Traurigkeiten und Hoffnungen flüsterten lautlos in den unzähligen kleinen Hohlräumen. Die ihrer Großeltern und die der Menschen, die lange vorher dort gelebt, ja, die das Haus erbaut hatten. Henny hatte sie alle gehört in den Nächten, die sie als Kind und als Frau hier geschlafen hatte, und sie hatte sie in ihre Bilder gezeichnet. Und auch von ihr und von Joram würde etwas bleiben.
    Auch Joram war hier zuhause, er wusste es nur nicht. Es war ein gutes, sicheres Gefühl.
    Vielleicht wartete er auch schon auf sie, im Blau der Ferne irgendwo im Meer, und der Wind trug seine Stimme unter das Reetdach. Henny lauschte. Ja, sie hörte ihn.

    Sie steckte den Umschlag ein, radelte zu ihrem Anwalt. Heute lag Frühling in der Luft. Begierig atmete sie tief ein.
    Später kehrte sie zurück mit der Gewissheit, dass nun alles gut war.
    Von ihrem Lieblingsplatz auf der Terrasse aus sah sie in den nächsten Wochen, wie sich der Frühling anschlich. Sie sah Schneeglöckchen verblühen und Krokusse und Hasenglöckchen ihre blauen Gesichter in die steigende Sonne wenden, die dem jungen Jahr Farbe gab.
    Oft hielt sie die Muschel in der Hand, auf der Kalk die seltsamen Schriftzeichen hinterlassen hatte. Ihr war, als könnte sie sie jetzt lesen. Sie sagten ihr, dass Joram sie warten hieß, bis der Moment gekommen war. Dort stand, dass er sie einlud, mit ihm auf eine Reise zu gehen, mit den Kranichen, die unterwegs zum Meer waren.

    Es war ein warmer, stiller Morgen, als sie die ersten Kraniche des Jahres hörte. Sie kamen aus dem Süden, leicht und frei und elegant auf kräftigen Schwingen. Sie flogen in sauberer Formation, ein dunkler Pfeil unter dem Himmel, der auf die See zeigte. Ihre glockenähnlichen Rufe fielen Henny in den Schoß. Wie ein kurzer Schmerz war es, als sie sie trafen. Dann hörte sie zwischen diesen Tönen einen anderen. Das Meer rief sie, in Jorams Namen. Sie war leicht jetzt, leicht und frei wie die Kraniche. Getragen vom Wind sah sie das Licht auf den Wellen.

    Das Bernsteinschiff lag in seinem versiegelten Umschlag im dunklen Schreibtisch von Anwalt Elbrink, doch durch seinen Rumpf huschte ein Leuchten, vom Bug bis zum Heck, und warf ein Funkeln über die silbernen Segel, die ein zeitloser Wind füllte.

Carly
1999

34. Aus Erde geboren
     

    Der Wald faszinierte Carly, zog sie magisch an und gruselte sie zugleich. Eingeklemmt zwischen Meer und Bodden war er wie kein anderer Wald, den sie kannte. Grüner, dichter und wilder. Ein Urwald, in dessen Wachsen und Sterben sich seit Jahren niemand eingemischt hatte. Hier hatte sie noch weniger als auf Naurulokki das Gefühl, allein zu sein. Überall unsichtbare Gegenwarten, ein Rascheln und Huschen. Dass es Mäuse, Vögel, Blindschleichen und in der Ferne die Hirsche waren, war ihr klar. Doch wo war der verschollene Künstler geblieben, von dem alle noch erzählten, der hier verschwunden sein sollte – und wo vor allem Joram, den man angeblich ebenfalls hier zuletzt gesehen hatte oder auch nicht?
    Hennys Gesicht, das sie aus dem kleinen Schiff angesehen hatte, machte ihr keine Angst. Sie hatte sich an Hennys spürbare Gegenwart gewöhnt, es war eine gute Gegenwart. Aber was wollte sie Carly mit diesem eindringlichen Blick aus dem Bernstein mitteilen?

    „Schlafe drüber und sag mir dann Bescheid“, hatte Thore gesagt. Er hatte jedoch keine Zweifel gehabt, dass sie zusagen würde. Sie konnte sich nicht leisten, diesen Job nicht anzunehmen. Ihr fielen auch keine vernünftigen Argumente dagegen ein. Nicht einmal unvernünftige! Am liebsten wäre sie in diesem Wald geblieben und in einem hundertjährigen Schlaf versunken wie Dornröschen, dann müsste sie die Entscheidung nicht treffen, die sie von hier fortzwingen würde. War es Joram auch so gegangen?

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