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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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Hatte er sich nicht entscheiden können, ob er gehen sollte, „am liebsten mit den Kranichen fliegen und das Ende des Windes suchen“, so ähnlich hatte es Anna-Lisa ausgedrückt – oder ob er endgültig bei Henny bleiben wollte?

    Carly wusste nicht, wie lange sie zwischen den enormen Stämmen, aufragenden Wurzeln und gefallenen Ästen umhergestreunt war, als ein Käuzchen rief und sie bemerkte, dass es fast dunkel war. Erschrocken lief sie auf das Schimmern zu, das ihr zeigte, wo über dem Meer die Sonne untergegangen sein musste. Erleichtert stand sie auf dem Deich. Es war herbstlich kühl, aber sie war zu aufgewühlt um zu frieren, wusste nur, dass sie noch nicht zurück wollte. Sie hatte noch keine Antwort gefunden. Auch die Sterne hatten diese heute nicht, sie sprachen nur von Thore.
    Ein Dreiviertelmond erhellte den Sand und die Gischt, als Carly den Strand erreichte. Sie hockte sich hin, begann eine Sandburg zu bauen. Wie damals an jenem Tag, als sie ihre Eltern das letzte Mal gesehen hatte. Sie erinnerte sich an das Gefühl der feinen, sonnenheißen Körner, die durch ihre Finger rannen. Jetzt waren sie silberkühl. Am Flutsaum, wo der Sand feuchter war, baute sie ihre Burg, mit Hilfe eines flachen Stückes Treibholz schaufelte, buddelte und formte sie, krönte die Mauern mit Zinnen aus Kleckertürmchen und verzierte die Fenster mit weißen Muscheln. Sie vergaß sich selbst und die Zeit, bemerkte nicht, wie ihre Füße und Hände kalt wurden. Hier zwischen dem Land und dem Meer, vor dem sie keine Angst mehr hatte, das wie in ihrer Kindheit zum vertrauten Freund und Gefährten geworden war, war sie frei wie Joram, falls er mit den Kranichen und Gänsen geflogen war. Erst als sie fertig war, begann sie wieder zu denken. An Joram und die Holzgans und Anna-Lisa, die erzählt hatte, dass Joram ihr aus Nils Holgersson vorgelesen hatte.
    Gut, dachte sie, da ich nicht weiß, was ich entscheiden soll, könnte jetzt gern eine Fee vorbeikommen, mich kleinzaubern wie Nils und dann würde ich in dieser Burg wohnen, das Meer an die Mauern rauschen hören, von den Fenstern aus den Sonnenuntergang sehen und den ganzen Tag den Möwen und dem Kormoran zusehen. Nachts lege ich mich auf das Dach und zähle die Sterne. Und niemand wüsste, wo ich bin.
    Sie sah hinüber zu dem Kormoran, der wie immer am Ende der Buhne schlief. Sie konnte nur gerade seine Silhouette ahnen. Mit ihm hatte sie sich angefreundet. Er war fast immer auf seinem Platz, fischte, beobachtete sie oder schlief. Sein Blick fixierte sie durchdringend, wenn sie schwimmen ging, und manchmal, wenn sie am Strand war, flog er dicht über sie hinweg. Auch bei ihm hatte sie das Gefühl, dass er ihr etwas sagen wollte.
    Nur was?

    „Gehen Sie nach Hause! Es ist Mitternacht und Sturm kommt auf!“
    Vor Schreck wäre Carly fast in den Fluttümpel gefallen, der um ihre Burg herum entstanden war. Sie hatte nur das Rauschen der Wellen und des stärker werdenden Windes gehört wie eine Musik und nicht bemerkt, dass sich ihr ein Mann genähert hatte. Er war groß, und der Wind ließ seinen Umhang flattern. Hatte nicht Harry einen solchen getragen, als er ihr neulich durch den Nebel zugewinkt und die Richtung zum Ufer gewiesen hatte? Ach nein, es war ja dann doch eine Jacke gewesen. Dennoch hatte sie diesen Mann schon irgendwo gesehen. Selbst im Mondlicht sah sie, dass er ungewöhnlich helle Augen hatte. Aber das Mondlicht ging jetzt an und aus, es wurde immer wieder von jagenden dunklen Wolkenfetzen gelöscht.
    „Das wird der erste Herbststurm, gehen Sie nach Hause!“ In seiner Stimme war ein Drängen.
    Carly spürte jetzt, wie eine Bö unsanft an ihren Haaren riss. Die Wellen liefen weiter den Strand herauf als zuvor. Als sie sich nach ihrer Burg umsah, ragte nur noch der höchste Turm ein Blinzeln lang aus dem Wasser, bevor er zerfiel und versank.
    War also nichts mit dem Darin-Wohnen. Carly lächelte über sich selbst.
    „Danke, ich gehe schon!“
    Der Wind hielt noch einmal für einen Moment den Atem an. Die Wellen zogen sich zurück. Der Mann mit den hellen Augen sah auf den Graben, der von ihrer Burg geblieben war.
    „Wen hast du gesucht?“, fragte er. „Wer auch immer es ist: das Meer wird sie in deinem Namen grüßen. Im Meer geht nichts verloren, es löst sich nur. Nun laufen Sie!“
    Er wandte sich um und ging weiter. Carly lief den Deich hinauf. Als sie sich umdrehte, war er in dem zerrissenen Mondlicht nur ein heller Fleck, seltsam transparent, und ganz

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