Das Meer in deinem Namen
verschwunden, als die nächste Wolkenlücke kam.
Es war nicht einfach, den Deich zu überqueren; sie musste sich mit aller Kraft gegen den Wind stemmen, der ihr den Atem wegriss und über den Wald hinweg auf den Bodden hinaus jagte. Jetzt schlug ihr auch Regen ins Gesicht, der Mond war endgültig verschwunden. Im Schutz der anderen Seite konnte sie die richtige Richtung einschlagen und begriff zum ersten Mal wirklich, wozu ein Deich gut ist.
Erst als sie mit dem Wind in den Flur von Naurulokki schlüpfte und ihm mit Mühe die Tür vor der Nase zudrückte, fiel ihr auf, dass der Mann am Wasser sie abwechselnd gesiezt und geduzt hatte. Wie einst Thore.
Carly war durchgefroren. Sie duschte, wickelte sich in Hennys Bademantel und überlegte, ob sie beim Aufräumen einen Föhn gesehen hatte. Bis jetzt hatte sie ihre Locken in der Sommersonne trocknen lassen, aber dafür war diese Nacht eindeutig zu kalt. Es zog durch alle Fenster. Die würde der neue Besitzer dringend abdichten müssen. Aufs Geratewohl öffnete sie den Kleiderschrank in Hennys Zimmer. War da nicht in dem unteren Fach ein Föhn gewesen? Tatsächlich. Carly bückte sich danach. Mit dem Kabel fielen ein Stück Papier und ein länglicher Gegenstand heraus.
Ein Quirl. Ein Quirl, kaum länger als Carlys Hand, mit einem weißen Porzellankopf und einem Holzstiel.
„Zur Ergänzung der Westentaschenharke“ , stand in Jorams Schrift auf dem Zettel. „Damit du nicht vergisst, dass es gelegentlich gut ist, sein Leben gründlich umzurühren!“
Umrühren – das heißt von Grund auf ändern, dachte Carly. Sie stand mit nassen Haaren im zugigen Flur, drehte den Quirl in ihren Fingern und wusste so plötzlich und hell wie der Blitz, der vor dem Fenster aufzuckte und ein Flackern von Schatten durch die Räume bis zu Carlys bloßen Füßen schickte, dass sie sich ein völlig anderes Leben wünschte, als sie bisher angenommen hatte.
Keine wissenschaftliche Karriere. Kein Leben voller Zahlen und Anträge, keine entzauberten Sterne. Keine graue, stickige, stinkende Stadt unter einem schmutzigen, gestutzten Himmel, der nachts nie dunkel wurde.
Und, so sehr es schmerzte, keinen Thore mehr als wichtigsten Menschen in ihrem Leben; keinen Thore, der wohl seine Familie, in erster Linie aber seine Wissenschaft liebte und immer als das Wichtigste ansehen würde, Thore, der immer bereits unerreichbar auf dem Sprung zum nächsten Stern in seinen Gedanken war.
Der Seewind hatte in den Tagen auf Naurulokki unbemerkt Carlys Sehnsüchte umgerührt wie Jorams Quirl. Dabei hatte sich einiges aufgelöst, war unsichtbar geworden wie Zucker im Tee. Einzig Carlys ganz alte, ursprüngliche Sehnsucht hatte er wieder vom Grund aufgewirbelt und zutage gefördert: die Sehnsucht nach dem Meer.
Sie wünschte sich ein Leben wie Joram Grafunders Augen. Voll blauer Weiten, frischem Wind und Geheimnissen. Wie hatte Henny geschrieben? Carly legte den Fön beiseite und holte sich den Zettel.
„Sie sind von einem warmen, rauchigen Blau wie der Dunst an einem Spätsommertag ... Ein verhaltenes, dunkles Blau, weit und einsam wie der Horizont bei Sonnenaufgang. Ruhe ist darin wie der Mittag über den Boddenwiesen, gleichzeitig eine Ahnung von Geheimnissen und eine Ankündigung von Sturm, ein Gedanke an Wagemut … Verletzlichkeit und ein Schmunzeln über sich selbst verstecken sich im Hintergrund. Eine weise Traurigkeit streitet sich darin mit Neugier und dem Wissen um einen ganz erdigen, lebensnahen Zauber … Wenn ich ihm in die Augen sehe, wird alles ganz still und klar in mir und ganz. Dann bin ich zuhause. Gleichzeitig spüre ich, wie triumphierend bunt, leuchtend, groß und voller Musik das zerbrechliche Abenteuer Leben ist.“
Ja, so ein Leben wünschte sich Carly, und vielleicht – auch einen Mann mit Augen wie Joram Grafunder. Irgendwann.
Der Sturm heulte um das Reetdach, zischte zwischen den Halmen. Irgendwo klapperte ein Fensterladen. Carly hatte sich dicke Strümpfe geholt und einen Tee gemacht, als alle Lampen ausgingen.
Jakob hatte erwähnt, dass bei Sturm gelegentlich der Strom ausfiel. Carly tastete nach einer Kerze und schlürfte bei ihrem Licht dankbar den heißen Tee. Gut, dass es dunkel war. Bei Licht hätte sie sich vor ihren eigenen neuen Träumen erschrocken, aber so waren sie kaum zu sehen. Sie musste dafür sorgen, dass sie sich wieder in ihre Winkel zurückzogen, bevor es hell wurde. Sie konnte sich diese Träume nicht leisten, denn sie hatten keine Wurzeln in der
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