Das Meer und das Maedchen
sie. „Ein Geschenk.“
98 Und Mirja erkannte die Wahrheit. Meggie Marie hatte ihre Tochter Signe geschenkt. Signe hatte sie genommen. Und behalten.
99 Hoch oben im Himmel sammelt der Mond die Gebete der Mütter. Kein einziges geht ihm verloren. Der Mond bekommt Gebete und Lieder und sogar Flüche. Aber kann der Mond ein Gebet erhören? Kann er einen Wunsch erfüllen?
Es gibt nur zwei Dinge, die der Mond zweifellos kann: Er kann sein silbernes Licht auf die Erde werfen. Und er kann das Meer ziehen und schieben.
Die ganze Nacht lang hat der Mond auf die Rochen gewartet – auf die Echten Rochen. Sie scharen sich seit Tagen zusammen und bereiten sich auf diesen Moment vor. Der Mond hat in dieser Nacht bereits einmal über Ebbe und Flut bestimmt. So ist es immer mit dem Sommermond, mit dem blauen Mond. Jetzt ist es wieder Zeit für die Flut. Der Mond weiß das. Und die Rochen wissen es auch.
Es waren Tausende, die sich dort hinter der Sandbank tummelten und darauf warteten, dass der silberne Trabant die Flut zusammentrieb, damit sie auf ihr durch den Kanal ins Becken schwimmen konnten. Ihre Bäuche waren voller Eier, die sie dort ablegen wollten. In ihren Meerjungfrauen-Täschchen.
Sie waren weit gereist für diese eine Nacht. Sie warteten. Sie warteten, bis der Mond die Gezeiten antrieb.
100 Dogie rannte Zwei hinterher zum Becken. Als er dort ankam, leuchtete er mit seiner Taschenlampe das Ufer ab und richtete den Strahl dann aufs Wasser. Es herrschte noch Ebbe, aber Dogie wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Flut sich durch den Kanal schieben und das Wasser steigen würde. Er stand da, ohne recht zu wissen, was er sehen sollte. Er hatte das deutliche Gefühl, dass etwas fehlte. Aber was?
„Jap, jap, jap!“ Zwei sauste zum Anleger.
Dogie folgte ihm mit dem Licht der Taschenlampe. Der kleine Hund rannte hin und her. Und dann blieb er stehen, direkt am Ende des Piers.
Wo der Flitzer angebunden hätte liegen sollen, war nur Leere. Das Boot war weg. Dogie kratzte sich am Kopf. Er wusste genau, dass er einen guten, starken Knoten geknüpft hatte. War es möglich, dass er sich trotzdem gelöst hatte? Er schaute hinaus auf die Lagune. Alles war still.
Nein. Er glaubte nicht, dass sich das Boot losgerissen hatte, nicht in einer so ruhigen Nacht. Dann kam ihm ein anderer Gedanke: Jemand war mit dem Boot hinausgefahren.
Aber wer? Wer würde mitten in der Nacht eine Bootsfahrt unternehmen? Mr Beauchamp? Ganz gewiss nicht.Signe? Sie stieg doch nicht einmal bei Tag in ein Boot.
Er leuchtete hinaus aufs Wasser. Vielleicht hatte sich der Knoten doch gelöst. Er richtete den Strahl der Taschenlampe auf das Ufer, wo die Salzsümpfe begannen. Kein Boot. Wenn es sich bei Flut befreit hätte, würde es irgendwo im Sumpfgras verhakt auf dem Wasser schaukeln.
Noch einmal leuchtete er das Ufer ab. Kein Zeichen des Flitzers .
Plötzlich richteten sich die kleinen Härchen auf seinen Armen auf.
„Oh nein“, sagte Dogie.
„Jap, jap, jap!“, erwiderte Zwei eifrig.
„Oh nein, oh nein, oh nein“, stammelte Dogie.
Mirja.
Nur Mirja konnte das Boot genommen haben.
Er wirbelte auf dem Absatz herum und rannte zu dem spukblauen Haus. Zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete er die Treppe hinauf und hämmerte gegen die Tür. „Signe!“, schrie er. „Signe, wach auf!“ Er drehte am Türgriff. Die Tür war offen.
Mirja hatte die Tür nicht abgeschlossen.
Er stieß sie auf. Eigentlich hätte ihm BF entgegenkommen müssen.
Kein BF .
Und ihm war klar, dass sie gemeinsam da draußen waren.
„Signe!“, brüllte er. „Wach auf!“
101 Mirjas Nacken brannte an der Stelle, wo das pinkfarbene Band gerissen war. Sie legte den Kopf nach hinten, um den Schmerz zu lindern. Dabei sah sie, dass der Mond schon langsam am Himmel nach unten wanderte. Dann merkte sie, dass die Wellen ruhiger geworden waren. Ganz allmählich beruhigte sich das kleine Boot und schüttelte sich, als würde es um Atem ringen. Mirja fühlte sich, als würde sie in einer Wiege hin und her schaukeln, in einer kleinen hölzernen Wiege.
Völlig aufgelöst und eng zusammengerollt, benommen und frierend, lag sie im Boot. Das Wasser platschte gegen sie. Sie drückte ihre Füße fester gegen die Bank und legte den Kopf auf die Arme. Das Verlangen nach Schlaf suchte sie heim. Sie war so unsagbar müde. Sie hätte hier und jetzt einschlafen können. Sie blinzelte. Sie war sogar zu müde, um zu weinen.
Sie schob den Schlaf weit von sich.
Sie
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