Das Meer und das Maedchen
Der Mond stand am westlichen Himmel. In ein paar Stunden würde er untergehen.
Dogie spürte einen Stich des Bedauerns. Der blaue Mond. Wer wusste schon, wie lange es dauerte, bis der Mond wieder voll und blau war? Monate? Ein Jahr? Er betrachtete die runde Scheibe. Da war sie wieder: seine Sehnsucht, eine riesengroße Sehnsucht. Er sehnte sich danach, Signe sein Lied mit den zwei Worten vorzusingen.
Er wandte dem Mond den Rücken zu.
Wo war Zwei?
Und wie zur Antwort auf seine gedachte Frage, kam Zwei angerannt.
„Jap, jap, jap!“
Dogie wollte nach ihm greifen, aber Zwei wich ihm aus. Und schon preschte er wieder davon, diesmal in die andere Richtung.
War dieser Hund von einem Rudel Sandflöhe gebissen worden? Doch dann meinte Dogie, eine Veränderung im Wind zu spüren. Er hastete zu dem unbeleuchteten Bus. Er schloss die Tür auf und stieg ein. Die Regenbogenfarben der Surfbretter kamen ihm im schwachen Strahl der Taschenlampe schüchtern und blass vor. Er ging den Gang entlang und rüttelte an den Fenstern. Alles schien tipptopp in Ordnung zu sein.
Er verließ den Bus wieder und da bemerkte er den dunklen Umriss einer einzelnen Möwe dicht über dem Meer. Captain? Wieso war Captain um diese Uhrzeit unterwegs? Dogie schaute genauer hin. Wenn es Captain war, würde er ihn an seinem Flügel erkennen. Aber als er die Augen verengte und angestrengt in die Dunkelheit spähte, sah er nur noch Wasser.
„Jap, jap, jap!“, rief Zwei.
Der kleine Hund kam auf ihn zugerast und hopste im Kreis um seine Beine. Dogie streckte die Arme nach ihm aus, aber wieder entwischte ihm Zwei. Diesmal rannte er in Richtung der Lagune.
95 Mirja blieb zusammengerollt im Boot liegen, als eine weitere mächtige Welle sie auf die Hörner nahm. Hoch, hoch, hoch hinauf. Sie vergrub sich förmlich unter dem Sitz des Flitzers . Sie stemmte sich gegen das Holz und machte sich bereit für den Absturz. Und da war er auch schon. Tief, tief, tief hinab ging es.
Tiefer und tiefer fiel das Boot. Mirjas Körper spannte sich an, während sie auf den Aufprall wartete. Wie weit würde sie fallen, wie tief war das Wellental?
Und dann, mit einem Schlag, war sie unten, klatschte auf den tiefsten Punkt der Welle. Mirja fühlte die Wucht in jedem Muskel, jedem Knochen, in jeder Sehne. Ihre Beine waren verkrampft. Ihre Arme waren verkrampft. Und ihr Bauch war ein einziges verkrampftes Knäuel.
Ihre Finger, ihre wunden, aufgeschürften Finger, klammerten sich an den Sitz des kleinen Bootes. Sie hielt sich, so fest sie konnte. Sie fühlte den Glücksbringer gegen ihr Schlüsselbein schlagen. Er war das Letzte, das Meggie Marie ihr gegeben hatte. Kurz bevor sie davongeschwommen war. Kurz bevor Signe sie gepackt hatte. Signe … hatte sie gepackt!
Und plötzlich erinnerte sich Mirja. Sie erinnerte sich ganz genau. Sie hatte alles tatsächlich schon einmal erlebt … so ähnlich jedenfalls. Sie war schon einmal in einem kleinen Boot auf den Wellen geritten, in einem Boot, das noch viel kleiner war als der Flitzer , in einem runden Boot, einem Boot mit glatten Kanten. Sie war darin herumgeworfen worden. Sie erinnerte sich.
Erinnerte. Erinnerte. Erinnerte sich.
Das kleine Boot. Die peitschenden Wellen. Das kalte Wasser.
Allein.
Und doch nicht allein.
Nein. Sie war nicht allein gewesen in jener Nacht. Meggie Marie war bei ihr gewesen.
96 Eine große Holzschale.
Groß genug, dass ein kleines Mädchen darin sitzen konnte.
Während ihre Mutter sie auf dem Küchenboden im Kreis drehte.
Eine wunderschöne Holzschale.
Groß genug, dass ein anderes kleines Mädchen darin sitzen konnte.
Während ihre Mutter sie auf den Wellen des Ozeans aussetzte.
Plötzlich schlug eine schreckliche Erinnerung über Mirja zusammen. Eine blaue Erinnerung, so blau, dass es wehtat.
Der Abend ihres Geburtstages.
Sie war drei Jahre alt.
Während Mirja sich im Flitzer zusammenrollte, schlang sich die Erinnerung um sie wie ein Seil.
Sie saß in einem hölzernen Boot. Aber es war rund und tief, ohne Bug oder Heck. Es hatte weder backbord noch steuerbord und es hatte auch kein Segel. Und sie war weit vom Ufer entfernt, direkt neben der Sandbank. De Vacas Fels. Ihr kleines Boot schlug dagegen. Es klopfte an den alten Stein.
Von hier aus konnte sie kaum das flackernde Lagerfeuer am Strand sehen, etwa hundert Meter weit entfernt. Dort lag Signe und schlief. „Drei ist eine magische Zahl“, hatte Signe gesagt. Statt eines Kuchens hatte Signe Mirjas Leibspeise zubereitet,
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