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Das Meer und das Maedchen

Das Meer und das Maedchen

Titel: Das Meer und das Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathi Appelt
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elektrisiert durch die Furcht, als könnte sie Funken sprühen, wenn sie irgendetwas berührte. Wie hatte sie das Schreckliche nur zulassen können?
    Das war alles ihre Schuld. Wenn sie Mirja nicht angeschrien hätte wegen der sprechenden Krabben und der Meerjungfrauen, dann würde ihr Mädchen nebenan schlafen, genau dort, wo es hingehörte.
    Sie musste jemanden alarmieren, aber wen? Dogie reichte ihr das Telefon.
    Sie rief alle an: die Küstenwache, den Sheriff, die Polizei. Sie rief sogar den Tierarzt an, Dr. Scarmardo, den einzigen Veterinär in Tater. Sie weckte ihn auf und wusste nicht, was sie sagen sollte.
    Und alle wiesen sie an, zu Hause zu bleiben und abzuwarten.
    Die Küstenwache: „Bitte bleiben Sie in der Nähe des Telefons, Ma’am.“
    Der Sheriff: „Wir sind sofort da. Bitte bleiben Sie im Haus.“
    Die Polizei: „Warten Sie auf unseren Anruf.“
    Dr. Scarmardo: „Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich bin in einer Stunde da.“
    „Wie soll das gehen?“, hatte sie geschrien. Wie sollte sie neben dem Telefon sitzen und eine Stunde lang warten, wenn Mirja draußen auf dem Meer in einem Boot saß, das nicht im Mindesten seetauglich war? GANZ ALLEIN !!! Signe kam es vor, als ob ihr die Haut von den Knochen gezogen, als ob sie jede Sekunde auseinandergerissen werden würde. Die Welt würde aus den Fugen geraten, aus den Nähten und aus dem Leim gehen. Sie hatte das unbändige Verlangen, selbst ins Wasser zu rennen und von einem Ende des Golfs zum anderen zu schwimmen.
    „Das reicht“, sagte sie.
    Sie würde nicht neben dem Telefon warten. Sie konnte einfach nicht.
    Blitzschnell trat Signe in Aktion. Sie flog förmlich zur Tür hinaus und rannte die Stufen hinunter.
    Und Dogie rannte neben ihr, gefolgt von Zwei.
    Sie rannten bis zum Strand. Am Ufer blieben sie stehen. Mit einem Mal schlug die Riesenhaftigkeit des tiefschwarzen und ruhelosen Ozeans über Signe zusammen. Sie wurde nur von einem einzigen Gedanken beherrscht: Mirja war irgendwo da draußen.
    Und dann erhob Dogie neben ihr seine Stimme und rief …
    107 „ MIIIIIIIRRRRRRJAAAAA !!!!!“
    108 „MIIIIIIRRRRRRRJAAAAA!!!!!“
    109 „MIIIIIIIRRRRRJAAAAAAA!!!!!“
    110 Mirja konnte doch nicht weit gekommen sein, dachte Signe. Wie weit konnte ein kleines Mädchen in einem Boot kommen? War es möglich, dass es der Flitzer bis ins tiefe Wasser jenseits der Brandung schaffte?
    Signe legte ihre Hände gegen die Wangen; mit den Fingerspitzen rieb sie sich die Augen.
    Immer mehr Fragen rasten ihr durch den Sinn. Tränen, Millionen, Milliarden von Tränen, strömten über ihr Gesicht. Sie hätte es Mirja längst sagen sollen, hätte ihr die Wahrheit über ihre Mutter sagen sollen: dass sie, Signe, Meggie Marie weggeschickt hatte; dass Meggie Marie keine Meerjungfrau war. Stattdessen hatte sie Mirja an Elfen und Feen glauben lassen und an sprechende Krabben.
    Oh, was hatte sie getan? Was hatte sie nicht getan? Und dann, am allerschlimmsten, die Frage: Was für eine Mutter war sie bloß?
    Während sie am Ufer stand, schienen Signes Füße bis zum Mittelpunkt der Erde einzusinken. Signes Knie gaben nach und sie sackte auf dem nassen Sand zusammen.
    „Ein Geschenk“, wimmerte sie. „Ich sollte sie nehmen und festhalten und auf sie aufpassen.“
    Signe schaute wieder hinaus auf die Brecher der Brandung. Es waren viele und sie waren hoch. Ihre Schaumkronen schimmerten im Dunkeln. Sie fühlte Dogie neben sich stehen und ganz plötzlich fuhr ein Geräusch aus ihrem Körper, das sie noch nie gehört hatte. Ein dumpfes Geheul schlang sich um ihre Brust, um ihre Hüften und ihre Knie, bis sie glaubte, ersticken zu müssen.
    Signe wollte aufhören, wollte diesen Lärm auslöschen, aber sie konnte nicht.
    Sie schloss die Augen. Wenn sie hier liegen blieb, eingerollt wie eine Auster in ihrer Schale, fest gegen den Sand gedrückt, würde dann das Meer kommen und sie holen? Sie glaubte nicht, dass sie sich jemals wieder vom Fleck würde rühren können, dass sie jemals wieder diese Haltung aufgeben konnte. Sie glaubte nicht, dass es ihr gelingen würde, dieses entsetzliche Geheul, das aus ihrem Körper drang, zum Versiegen zu bringen. Es wollte einfach nicht aufhören, es wollte nicht, es konnte nicht …
    In diesem Augenblick schlang Dogie seine Arme um ihre Schultern und zog sie sanft auf die Füße. Dann nahm er sie in seine starken Arme und hielt sie fest. Er hielt sie, während dieses schreckliche Geräusch aus den Tiefen ihrer Kehle, ihres Bauches und ihrer Füße

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