0761 - Nefrets Todesvogel
Das wußte Sondrax sehr deutlich. Deshalb hatte er Furcht. Oft in den letzten Jahren hatte er sein Schicksal verflucht. Wie gern wäre er ein normaler Mensch gewesen, ohne die schreckliche Belastung, die auf ihm und den anderen Menschen lag, die zu seiner Gruppe zählten. Er wußte nicht einmal, wer alles zu ihnen gehörte. Wenn die Zeit reif war, dann fanden sie sich zusammen.
Nun war er auf der Flucht. Er floh vor einem Feind, er floh vor seinem Wissen, und er floh auch vor sich selbst. Das Gefühl der Furcht lag wie kaltes Öl auf seinem Körper. Ihm war nur der eine Weg geblieben. Er hatte den Schatten gesehen, der ihn jagte, der ihn vor sich hertrieb, bis hinein in die steilen Felsen an der Küste.
Tief unter ihm schimmerte das Meer.
Es war dunkel und gewaltig. Geheimnisvoll und auch an gewissen Stellen sehr hell, wo sich das Licht des Mondes verteilte. Sondrax mochte es nicht, er liebte die Sonne, denn das andere Licht war so kalt wie Eisdampf.
Er mußte sich ausruhen. Die letzten dreißig Minuten waren schlimm gewesen, sie hatten an seinen Kräften gezerrt und ihm die Energie aus dem Körper gesaugt.
Sondrax kletterte trotzdem weiter, weil er dicht unter sich einen kleinen Vorsprung entdeckt hatte, auf den er sich möglicherweise ausruhen konnte. Vielleicht lag dahinter sogar ein Versteck, eine kleine Höhle, in den langen Jahrtausenden entstanden. So etwas gab es durchaus. Man mußte nur Glück haben. Sondrax hoffte, daß er diesmal Glück hatte.
Beinahe wäre er mit dem Innenrist abgerutscht, denn das Gestein war sehr glatt. Im letzten Augenblick fand er auf einer schmalen Schräge einen Halt und dankte dem Himmel, daß er Turnschuhe trug.
Er dachte auch an den Schatten. Hoffentlich kehrte derjenige, der ihn gejagt hatte, nicht zurück und vollendete den Schrecken. Er wollte nicht sterben, nicht auf eine derartig schlimme Art und Weise.
Wenn, dann sollte ihn der normale Tod ereilen.
Nur noch ein kleines Stück. Einen Meter, mehr nicht, dann mußte er es geschafft haben. Eine plötzliche Windbö zerrte an ihm. Sie riß ihm fast das helle Hemd aus der Hose und Sondrax duckte sich, als könne er dem Wind entkommen.
Er streckte seinen Körper, indem er ihn fallen ließ. Mit den Spitzen der Finger hielt er sich fest.
Wenn er die Augen verdrehte und nach oben schielte, sah er die schmale Felsleiste über sich.
Er hangelte sich tiefer, fand eine rauhe Stelle im Fels, auf der er nicht ausrutschen konnte. Noch ein kleiner Dreh zur Seite, dann lag es hinter ihm.
Er glitt noch tiefer, fand wieder Halt und erreichte plötzlich den muldenförmig eingekerbten Vorsprung mit einer ihm schon unheimlich vorkommenden Sicherheit.
Der Rest war ein Kinderspiel. Er blieb auf dem Vorsprung hocken wie ein ängstliches Kaninchen, wagte dabei nicht, in die Tiefe zu schauen, schaffte eine Drehung und blickte tatsächlich in den Felsen hinein. Diesmal hatte es das Schicksal gut mit ihm gemeint. Die kleine Höhle war wie für ihn geschaffen.
Auf Händen und Füßen kroch er hinein. Hier wollte er die Nacht abwarten, und am Morgen, wenn die ersten Fischer auf das Meer hinausfuhren, wollte er so laut schreien, das seine Stimme von den Felswänden den Männer als Echo entgegenhallte.
Wie viele Stunden blieben ihm noch?
Er wußte es nicht, denn seine Uhr funktionierte nicht mehr. Sie war bei einem Stoß gegen einen spitzen Felsen zerbrochen. Das war nicht tragisch, für Sondrax zählte nur die eigene Sicherheit.
Vierunddreißig Jahre alt war er geworden, und er hatte immer gehofft, doppelt so alt zu werden.
Jetzt standen die Chancen dafür besser als noch vor einigen Minuten.
Die Kletterei und auch die Flucht - ja, es war eine Flucht gewesen - hatten ihn angestrengt. Er war außer Atem geraten, rang nach Luft und hatte Mühe, die Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen.
Hinter seinen Schläfen spürte er den Druck, da pochte das Blut, aber davon wollte er nichts wissen, das war alles natürlich.
Wenn nur der Schatten nicht mehr zurückkehrte…
Er war so schnell, so lang, auch so gefährlich, und Sondrax ahnte auch, wer dieser Schatten war.
Wenn er daran dachte und dies mit seinem Schicksal verglich, dann stieg wieder die eisige Kälte in ihm hoch, bis in seinen Kopf hinein, wobei sie allerdings eine Stelle - die genau hinter der Stirnmitte - aussparte.
Das war sein Problem und gleichzeitig sein Geheimnis. Er teilte es mit einigen anderen Menschen auf dieser Welt, ohne genau zu wissen, wie viele es waren.
Sein Atem
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