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Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dubravka Ugresic
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Wir waren überall. Und niemandes Geschichte war persönlich und erschütternd genug. Denn der Tod erschütterte niemanden mehr. Es gab zu viel davon.

    Ich habe gelernt, meine Landsleute im Ausland zu erkennen. Die älteren Männer waren am auffälligsten. Bahnhöfe und Flohmärkte waren ihre Versammlungsorte. In kurzen Lederjacken, die Hände tief in den Taschen, tauchten sie stets in Rudeln auf, zu dritt oder viert, wie Delphine. So standen sie, tänzelten ein wenig, bliesen Tabakrauch in die Luft, verjagten ihre Angst und gingen auseinander.
    In dem Berliner Bezirk, wo Goran und ich wohnten, blieb ich manchmal vor einem »Flüchtlingsklub« stehen. Durch die Glastür sah ich die
Unsrigen
, die dasaßen, schweigend Karten spielten, auf den Fernseher glotzten und ab und zu einen Schluck aus der Bierflasche nahmen. An der Wand hing eine mit Ansichtskarten geschmückte Landkarte, von Hand gezeichnet und mit total veränderten Proportionen. Ihr Ort, Brčko oder Bijeljina, stellte dort das Zentrum der Welt dar, ihre verbliebene Heimat. Im Zigarettenrauch sahen alle wie
Ehemalige
aus, wie Tote, die aus ihren Gräbern auferstanden waren, um eine Flasche Bier zu trinken, um eine Partie Karten zu spielen, aber an einen falschen Ort geraten waren.

    Auf der Straße schnappte ich oft ihre Gespräche auf. Ständig redeten sie über Zahlen. Fünfhundert Mark, dreihundert Mark, tausend Mark … Hier in Amsterdam zählten sie Gulden … Dabei dehnten sie zärtlich die Vokale. Sie schienen kein anderes Theman zu kennen, sondern zählten ewig vorhandenes oder erträumtes Geld.
    Die Bewohner der Länder, in die sie geraten waren, nannten sie
Schwaben
statt Deutsche,
Dačer
statt Holländer. Sie machten sich wichtig. Sie gebrauchten Phrasen wie
Ist doch meine Rede
oder
Das sag ich ja
und betonten damit ihre Rolle in der ganzen Angelegenheit, obwohl das, was sie sagten, ebenso bedeutungslos war wie ihre Rolle. Sie beharrten auf ihren Themen.
Von Oostdorp bis Leidseplein schaff ich’s in elf Minuten … Wie soll das gehen, man braucht doch mindestens fünfzehn Minuten. Hast du das gestoppt? Ja, Mensch, von dem Moment an, wo man in die Straßenbahn steigt
… Sie verausgabten sich in den Gesprächen, als könnte jedes Wort ihre Begegnung mit der eigenen Angst und Erniedrigung aufschieben.
    Die Art, wie sie sich bewegten, und die Orte, wo sie sich trafen, verrieten, dass ihnen
ihr
Raum fehlte;
ihre
Bank am Ufer oder vor dem Haus, von der aus sie die Vorübergehenden beobachten konnten;
ihr
Hafen, wo sie sehen konnten, welche Schiffe ankamen und wer ausstieg;
ihr
Marktplatz, wo sie beim Spazieren Bekannte trafen;
ihr
Wirtshaus, in dem sie
ihr
Getränk bekamen. In den europäischen Städten suchten sie die Raumkoordinaten, die sie zurückgelassen hatten,
ihr
räumliches Maß.

    Sie suchten auch ihr menschliches Maß. Goran hatte oft Anfälle von Jugonostalgie; dann las er den erstbesten »Landsmann« von der Straße auf und lud ihn auf einen Drink zu uns nach Hause ein. So hörte ich viele Geschichten über die deutschenHeime und den Flüchtlingsalltag. Die
Unsrigen
hefteten sich wie Magneten an Russen, Ukrainer, Polen, Bulgaren, die sie als »ihresgleichen« empfanden. Von einem Bosnier hörten wir die Story von den Polinnen, die auf eintägigen Bustouren nach Berlin kamen, um den
Unsrigen
polnischen Käse und Wurst billig zu verkaufen, manchmal auch mit ihnen zu schlafen, und für das eingenommene Geld etwas in Berlin einzukaufen, bevor sie heimkehrten. Sie witterten sich auf der Straße, erkannten einander am gemeinsamen Unglück und tauschten ohne Scham kleine Gefälligkeiten aus. Der Bosnier erzählte uns, er gebe seine ganze Sozialhilfe in einem Berliner Puff aus. Er gehe wegen einer Mascha hin, die ihm
das Fell über die Ohren
ziehe und ihm dafür
nichts biete.
Aber das störe ihn nicht,
sie ist Russin, eine von uns, einer Deutschen würde ich keine Mark geben, die haben keine slawische Seele
, sagte er.

    Die Männer beklagten sich pausenlos. Über das Wetter, das Schicksal, den Krieg, das ihnen angetane Unrecht. Sie beklagten sich über die Zustände in den Lagern, wenn sie dort untergebracht waren, sie beklagten sich, wenn sie nicht dort untergekommen waren; sie beklagten sich über die Sozialhilfe, die sie empfingen, und über die erniedrigende Situation, dass sie sie empfangen mussten; sie beklagten sich, wenn sie keine bekamen; sie beklagten sich über alles. So als wäre das Leben eine Strafe, alles drückte sie, alles

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