Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
hatten keine Kinder, vielleicht erleichterte das unsere Entscheidung. Meine Mutter und Gorans Eltern lebten in Zagreb. Unsere Zagreber Wohnungfiel nach unserem Weggang an die kroatische Armee und wurde der Familie eines Soldaten zugeteilt. Gorans Vater versuchte vergeblich, unsere Sachen, wenigstens die Bücher zu retten. Goran war nämlich
Serbe
und ich wohl sein
Tschetnikweib
. Es war eine Zeit, in der man für das allgemeine Unglück viele büßen ließ, am meisten die Unschuldigen.
Dennoch, der Krieg hat unsere Verhältnisse viel besser geordnet, als wir das gekonnt hätten. Goran, der Zagreb mit dem festen Vorsatz verlassen hat,
möglichst weit weg
zu gehen, ist wirklich weit weg, in Tokio. Bald nach seiner Abreise kam die Einladung meiner Bekannten Ines Kadić, bei der Amsterdamer Slawistik zwei Semester Serbokroatisch zu unterrichten. Ines’ Mann Cees Draaisma war Chef der Abteilung. Es gab sonst niemanden, der so schnell einspringen konnte. Ich nahm die Einladung ohne Zögern an.
Die Abteilung mietete mir eine Wohnung am Oudezijds Kolk. Das war eine kurze Gracht mit nur wenigen Häusern, deren eines Ende am Hauptbahnhof mündete, während das andere sich wie ein Palmwedel in die Zeedijk, eine von Chinesen bewohnte Straße, und in den Oudezijds Voorburgwal und den Oudezijds Achterburgwal, Grachten des Rotlichtviertels, gabelte. Es war eine kleine Souterrainwohnung, wie ein Zimmer in einem billigen Hotel. In Amsterdam sei es schwer, eine Wohnung zu finden, behauptete zumindest die Abteilungssekretärin, und ich fand mich damit ab. Der Stadtteil gefiel mir. Morgens konnte ich entlang der Zeedijk zum Niewmarkt gehen, im
Jolly Joker, Theo
oder
Chao Praya
einkehren, einem der Cafés mit Blick auf De Waag. Beim Kaffeetrinken beobachtete ich die Menschen an den Ständen mit Heringen, Gemüse, Käse und frischen Backwaren. In dieser Gegend verkehrten die verschiedenstenTypen. Hier begann das Rotlichtviertel. Hier waren kleine Dealer unterwegs, Prostituierte, chinesische Hausfrauen, Zuhälter, Drogensüchtige, Trinker, gealterte Hippies, Kramladenbesitzer, Verkäufer und Lieferanten, Touristen, Penner, Schwarzhändler, Obdachlose. Und wenn sich der graue Himmel (der berühmte holländische Himmel) auf die Stadt herabsenkte, genoss ich den trägen Rhythmus der Passanten. Alles wirkte ein bisschen angeschmutzt, marginal, gedämpft, verlangsamt, halb kriminell, aber gelassen im Namen einer höheren Lebensweisheit. Die Fakultät war in der Spuistraat, zehn Minuten zu Fuß von meiner Wohnung. Alles war, zumindest kam es mir anfangs so vor, räumlich perfekt. Und der Altweibersommer zog sich in diesem Jahr bis in den November hinein, so dass mir Amsterdam, so weich, gemächlich und warm, nahe war wie ein Ort an der Adriaküste jenseits der Touristensaison.
Die Geschichte von der Bosnierin hatte ich schon in Berlin gehört. Sie war mit der ganzen Familie auf der Flucht, mit dem Mann, den Kindern, den Schwiegereltern. Dann kam das Gerücht auf, die Flüchtlinge würden nach Bosnien zurückgeschickt. In ihrer Angst bat die Frau ihre Ärztin um eine fingierte Einweisung in die Psychiatrie. Der zweiwöchige Klinikaufenthalt war für die Frau eine Erfahrung der Freiheit, so stark und betäubend, dass sie beschloss, nicht zurückzukehren. Sie verschwand, änderte ihre Identität, wer weiß, was mit ihr geschah, ihre Angehörigen sahen sie nie wieder.
Ich habe Dutzende solcher Geschichten gehört. Der Krieg war für viele ein Verlust, aber auch ein guter Grund, das alte Leben abzuschütteln und ein neues anzufangen. Der Krieg hat wirklich das Leben der Menschen verändert. Selbst Irrenhaus, Gefängnis und Gerichtssaal wurden zu normalen Varianten.
Ich war nicht sicher, wie es um mich stand. Vielleicht suchte auch ich ein Alibi. Ich hatte keinen Flüchtlingsstatus, konnte aber nirgendwohin zurückkehren. Zumindest empfand ich so. Vielleicht diente mir, wie so vielen anderen, fremdes Unglück als Ausrede dafür, nicht zurückzukehren. Andererseits, waren der Zerfall des Landes und der Krieg nicht auch mein
persönliches
Unglück und Grund genug, wegzugehen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich längst abgereist und noch nirgends angekommen war. Als Goran gegangen war, verspürte ich Erleichterung, aber zugleich einen Verlust und starke Angst. Denn auf einmal war ich ganz allein, mit einem Fachwissen von geringem Wert und Ersparnissen, die nur für ein paar Monate reichten. Ich hatte Jugoslawistik studiert. So war ich
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