Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
sauge daraus den für meine Existenz so nötigen Sauerstoff, spende ihm den Sauerstoff, der für seine Existenz so nötig ist. Wir beidefühlen uns wie in einem Rausch, denn das Jetzt erreicht uns in jeder noch so kleinen Faser. Wir atmen den reinen Extrakt der Gegenwart, in der es nichts gibt, an das wir uns erinnern, und nichts, was wir vergessen sollen.
Manchmal überkommt mich meine Unruhe. Dann schnappe ich meine Handtasche, hänge mir den Mantel über und stürze aus der Wohnung. Igor bietet mir nicht mehr an mitzukommen, er lässt mich allein, er weiß, wohin ich gehe. Am liebsten bin ich am Meer, an einem der langen Sandstrände. Ich mag die holländischen Strände im Spätherbst oder im Winter, wenn sie menschenleer sind. Dort stehe ich und schaue auf das graue Wasser und in den grauen Himmel. Eine Weile stehe ich so wie versteinert vor einer imaginären Mauer, dann öffne ich den Mund und lasse Worte hinausströmen. Zunächst langsam, dann immer schneller und lauter. Ich züngele wie ein Lindwurm, und meine Zunge spaltet sich in Kroatisch, Serbisch, Bosnisch, Slowenisch, Mazedonisch …
Zu der unsichtbaren Mauer hin gerichtet, schlage ich rhythmisch mit der Stirn gegen den Wind und rede. Ich glaube nicht an Gott, kenne kein einziges Gebet. Vom Wind umweht, in die Landschaft wie in ein altmodisches Panoramafoto eingestanzt, sage ich, die
Lehrerin
, die beste ihres Jahrgangs, das auf, was ich kenne: meine Balkanlitanei. Vertreibe mit meinem Wortschwall die bösen Geister. Zerbreche mit Tönen unsichtbares Glas wie Oskar Matzerath. Lasse Worte aus meinem Mund fließen wie eine Krake ihre Tinte. Sende meine Laute aus, ohne einen Empfänger zu haben – eine klingende Flaschenpost. Der Wind verstreut meine Worte, ich sehe sie durch die Luft wirbeln, sich zusammenrollen. Nach einem Looping bohren sich die kleinen Rollen im Sturzflug in die Wand aus Wasser und lösen sich schnell auf wie Alka-Selzer …
… Verdammt sollst du sein im Diesseits und im Jenseits. Die schwarze Pest soll dein Herz treffen und dich Stück für Stück zerfressen.
Nie mehr sollst du den hellen Tag sehen.
Sollen dich die Wölfe auf einer Wegkreuzung zerfleischen.
Den Vögeln sollst du als Fraß dienen.
Barfuß sollst du über Dornen laufen.
Gebe Gott, dass du dünner wirst als ein Zopf und schwärzer als ein Topf.
Wo du Basilikum säst, soll dir bitterer Wermut wachsen.
Soll dich doch der Teufel fressen.
Soll dir der Teufel die Suppe auffressen.
Soll dir der Teufel in die Suppe spucken.
Krähen sollen dir ein Lied krächzen.
Friss deine eigene Zunge.
Ertrinke in deinem Blut.
Blitz und Donner sollen dich treffen und in zwei Stücke
reißen.
Blind sollst du durch die Welt irren.
Eine Schlange soll dich ins Herz beißen.
Elend sollst du leben wie ein Wurm unter der Rinde.
Deine Lenden sollen verdorren.
Dass dich die Sonne verbrenne.
Der Zucker soll dir bitter schmecken.
Hol dich der Teufel.
Wie du mir, so Gott dir.
Möge das Meer deine Knochen an Land spucken.
Gras soll zwischen deinen Knochen wachsen.
Dämonen sollen dich befallen.
Zu Staub und Asche sollst du werden.
Gebe Gott, dass dir die Augen ausfallen und nur zwei
Löcher im Kopf bleiben.
Dein Mund soll ewig stumm bleiben.
Verflucht sollst du sein.
Blut und Teer sollst du pissen.
Im Feuer sollst du braten.
Hundert Jahre sollst du lebendig begraben sein.
Niemand soll sich an deinen Namen erinnern.
Nie mehr sollst du die Sonne und den hellen Himmel
sehen.
Dass dich der Rost zerfresse.
Jeder Tag des Herren möge dir bitter sein.
Schande über dich.
Deine Wurzeln sollen verdorren.
An Durst sollst du verrecken.
Asche sollst du fressen.
Dein Herz möge zu Stein werden.
In Finsternis sollst du sterben.
Ohne Seele sollst du bleiben.
Finsternis soll dich verschlucken.
Schweinefutter sollst du fressen und nie davon satt werden.
Möge dein Leib auf der Straße vermodern.
Ein ewiges Jammertal sei dir beschieden.
Wie ein Wurm sollst du auf der Erde kriechen.
Deine Stimme soll dir für immer versagen.
Mit Taubheit sollst du geschlagen sein.
Die Muttermilch soll dir sauer aufstoßen.
Die Erde soll deine Knochen ausspucken.
Würmer sollen dich auffressen.
Allein und einsam sollst du dein Leben fristen.
Nie sollst du Brot und Salz gleichzeitig haben.
Zu Stein und Holz sollst du werden.
Ein Fels soll dir auf dem Herzen lasten.
Mein Glück soll dein Unglück sein.
Frösche sollen auf dein Grab pissen.
Einschlafen sollst du und nie mehr wach
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