Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Buddhismus aus dritter Hand, ein wenig
new age
, ein wenig Vegetariertum, ein wenig Bukowski, viel Rock, wenig Schullektüre, gerade so viel, um den »Prof« zufrieden zu stellen, viele unter der Schulbank gelesene Comics, viele Filme und ein bisschen Englisch, das sie eher im Kino als in der Schule gelernt hatten. Dieses ganze süßlich-traurige Gemisch trieb sie, möglichst schnell wegzugehen, nach Zagreb, Belgrad, Sarajevo oder noch weiter.
Tatsächlich zeigte der kleine Test, dass ihnen die Literatur wenig bedeutete. Sie langweilte sie. Selbst wenn sie entsprechende Vorbildung besaßen wie Meliha, die an der Philosophischen Fakultät in Sarajevo ihr Diplom in Jugoslawistik gemacht hatte, waren mit dem Krieg nicht nur ihre Prioritäten, sondern auch ihr Geschmack anders geworden.
Seit dem Ausbruch des Krieges hat sich mein Geschmack verändert. Ich erkenne mich nicht wieder. Alles, was ich vor dem Krieg als »Seifenoper« verachtet habe, rührt mich jetzt zu Tränen. Ich komme nicht los von den alten Filmen, in denen die Gerechtigkeit siegt, egal, ob es um Cowboys, Robin Hood, Aschenputtel oder Valter geht, der Sarajevo verteidigt. Als hätte ich alles an der Fakultät Gelernte vergessen. Wenn mir ein Buch nicht gleich zu Herzen geht, lege ich es weg. Ich ertrage nicht mehr die künstlerische »Gespreiztheit«, die Wichtigtuerei mit literarischen Techniken, die Ironie – all das, was mir früher Genuss bereitete. Jetzt mag ich Einfachheit, zu Parabeln verkürzte Geschichten. Märchen sind mein Lieblingsgenre geworden. Ich liebe die Romantik der Gerechtigkeit, der Tapferkeit, der Aufrichtigkeit und der Güte. Ich mag es, wenn ein literarischer Held dort mutig ist, wo gewöhnliche MenschenFeiglinge sind; stark dort, wo gewöhnliche Menschen schwach sind; gut und edel dort, wo gewöhnliche Menschen böse und niederträchtig sind. Ich gebe zu, dass mein literarischer Geschmack mit dem Krieg »senil« geworden ist. Ich weine bei der Lektüre der »Sonderbaren Abenteuer des Lehrlings Hlapi
ć
«, der »Jungen aus der Paulstraße« und des »Zuges im Schnee«. Und hätte mir jemand gesagt, dass ich eines Tages auf Partisanengeschichten und auf Branko Ćopić abfahren würde, hätte ich den glatt für verrückt gehalten
, schrieb sie.
Auf die Frage, ob die kroatische, serbische und bosnische Literatur als gemeinsames Fach oder getrennt behandelt werden sollte, entschied sich die Mehrheit für das gemeinsame Fach (
Natürlich als gemeinsames Fach. Wir sprechen dieselbe Sprache. Man sollte auch die Slowenen, Mazedonier, Albaner dazunehmen
, schrieb Mario).
Was die Kurzbiographien betrifft, so hatten sie alle ordentlich zwei, drei Sätze auf Englisch verfasst (
I was born in 1969 in Sarajevo, Bosnia, where I lived all my life … I was born in 1974 in Zagreb from a Catholic mother and Jewish father … I was born in 1972 in Zvornik. My father was a Serb and my mother a Muslim … I was born in Leskovac in 1972 …
). Beim Lesen wurde mir klar, dass die Fremdsprache den Biographien zu Kürze und Trockenheit verholfen hatte. Denn ich selbst war in dem Moment nicht bereit, mehr von mir preiszugeben als
I was born in 1962 in Zagreb, in former Yugoslavia …
Und darum musste ich über Igors Antwort
Shit, I don’t have any biography!
erleichtert lachen. Mein eigener Lebenslauf kam mir leer vor wie eine unmöblierte Wohnung. Und ich wusste nicht, ob jemand in meiner Abwesenheit die Möbel weggeschleppt hatte oder ob es immer so gewesen war. Wir alle quälten unsmit der jüngsten Vergangenheit, mit dem Warten auf eine ungewisse Zukunft. (Welche Zukunft übrigens, jene dort, diese hier oder eine irgendwo anders?) So wurde selbst eine gewöhnliche Kurzbiographie zum schwierigen Genre. Ich stolperte schon über die einfachste Frage. Wo war ich wirklich geboren? In Jugoslawien? In Ex-Jugoslawien? In Kroatien? …
Shit! Do I have any biography?
Als ich ihre Geburtsjahre sah, war ich erschüttert. Sie waren »mental« viel jünger als biologisch. Als wäre die Flucht eine Art »Regression« gewesen. Nach ihrem tatsächlichen Alter konnten sie schon berufstätig sein und Kinder haben. Stattdessen drückten sie die Schulbank. Das Flüchtlingsdasein hatte vor langem verdrängte Kinderängste an die Oberfläche gebracht. Plötzlich war die Mutter aus unserem Tast- und Gesichtsfeld verschwunden. Das konnte auf der Straße, im Supermarkt, am Strand geschehen sein. Wegen unserer oder ihrer Unaufmerksamkeit war unsere Hand der ihren
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