Das Missverstaendnis
ausgezeichneten Sherrys; ihre Wangen glühten, ihre Augen glänzten; sie legte ihren Hut ab, ließ die Sonne ihr Haar durchdringen, das sich leicht anfühlte und bläulich aussah wie Rauchringe. Sie lehnten sich über das Geländer, um die Prozession vorbeiziehen zu sehen; es war ein unendlich langer Zug mit Fahnen, alten, rostigen Kanonen, betrunkenen Männern, die mit zitternden Händen ihre Gewehre umklammerten. Am Ende tauchten Priester in reichbestickten Meßgewändern auf, die ein großes Bild der Jungfrau Maria trugen, umgeben von brennenden Kerzen; beim Anblick des Bildes fiel die Menge auf die Knie, und in der unvermittelten Stille hörte man nur das irrwitzige Läuten der Glocken, unter dem die uralten schwarzen Mauern zu erbeben schienen.
Dann schlug die Prozession den Weg zur Kirche ein; nach und nach leerte sich der Platz, und bald blieben auf der Terrasse nur Denise und Yves und eine Gruppe Bauern übrig, die in einer Ecke saßen und tranken. Mit rosigem Leuchten hielt die Dämmerung Einzug, und die Berge mit ihrem kühlen Dunkel schienen näher heranzurücken. Denise schwieg. Sie war ein wenig betrunken und starrte unentwegt auf den Diamanten, der an ihrem Finger blitzte; leichter Abendwind erhob sich und ließ ihre Locken fliegen.
Plötzlich sagte sie:
»Mein Mann kommt in den nächsten Tagen zurück.«
Dann schwieg sie, beunruhigt und voller Scham über ihre Lüge errötete sie. Aber er sah es nicht.
Ängstlich fragte er:
»So bald?«
Sie machte eine vage Geste, die sie einer Antwort enthob. Mit tiefer Erregung sah sie, daß Yves ’ Lippen leicht bebten.
Er fragte leise:
»Er kommt, um Sie abzuholen?«
Und wie zu sich selbst sagte er:
»Die schönen Ferien sind vorbei … Ich hatte es ganz vergessen … Bald schon ist der 1. Oktober … Noch zwei Tage, und ich werde in Paris sein.«
»Zwei Tage!« rief sie.
Es war ihm, als würde sein Herz aufhören zu schlagen; sie aber machte sich Vorwürfe: Hatte sie denn seit einem Monat keinen Kalender mehr gesehen? Hatte sie nicht gemerkt, daß es Herbst wurde? Aber was ging sie das überhaupt an, was machte ihr das aus, daß dieser Fremde abreiste, dieser unbekannte Mann?
»Denise«, sagte er sanft.
Sie wagte nicht zu antworten. Er hatte ihre Hand genommen, die auf dem Tisch lag; er legte seine heiße Stirn darauf.
»Denise«, murmelte er erneut, nur dieses Wort.
Dann hörte sie seine belegte Stimme:
»Ich will Sie nicht verlassen. Ich kann nicht mehr leben ohne Sie.«
Und dann sagte sie, ohne daran zu denken, daß sie sich verteidigen, sich von ihm distanzieren mußte, während ihr unwillkürlich große Tränen über die Wangen rannen:
»Ich auch, ich kann nicht mehr leben ohne Sie.«
9
A n diesem Abend wartete sie auf ihn. Sie hatte das Licht nicht eingeschaltet, saß auf ihrem Bett und hatte die gefalteten Hände zwischen die geschlossenen Knie geklemmt. Er hatte sie inständig gebeten, mit ihm essen zu gehen, in Fontarrabie oder in der näheren Umgebung, in einem der kleinen Landgasthöfe mit weiß gekalkten Mauern, die sich an die Berghänge schmiegen und nachts unnahbar erscheinen wie Schlupfwinkel von Banditen; dort bekommt man aber oft wunderbaren spanischen Wein, gute Trauben und blitzsaubere Zimmer, mit Betten, die Gazenetze vor Fliegen schützen, und sonnengewärmten Holzböden, auf denen man gern barfuß läuft. Wegen Francette hatte sie abgelehnt, und gleich darauf hatte er sie nach Hendaye zurückgebracht, ohne auch nur den Anflug von schlechter Laune erkennen zu lassen.
Ach! Die Rückkehr im Boot, auf der Bidassoa, die das Abendlicht mit rosafarbenen Reflexen überzog! … Der alte sonnengebräunte Schiffer mit dem goldenen Ring im linken Ohr gab vor, an seinem Ruder zu schlafen; der Wind roch nach Salz. Als sie in Hendaye ankamen, war es Nacht, und riesige Sterne funkelten am Himmel; sie hatten die Dunkelheit nicht kommen sehen, als sie sich, die Lippen verschmolzen, mit geschlossenen Augen aneinanderdrückten, während das Boot geräuschlos über das schwarze Wasser glitt …
Denise legte den Kopf in ihre zitternden Hände. Im angrenzenden Zimmer rief eine helle Stimme: »Maman!« Widerstrebend stand sie auf und ging zu ihrer Tochter hinüber. Francette schlief nicht; ihre Augen glänzten; sie streckte die Arme zu ihrer Mutter aus.
»Maman, hast du mir etwas mitgebracht?«
Ob sie von einem Ball oder einem Ausflug zurückkehrte, immer hatte Denise dem Kind irgendeine Kleinigkeit gekauft; heute aber hatte sie es
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