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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Nemirovsky
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vergessen. Nach einer verlegenen Pause faßte sie sich rasch.
    »Natürlich«, sagte sie in festem Ton, »ich habe dir den Duft des Festes mitgebracht. Auf dem Weg hierher hätte ich ihn fast verloren, aber nein – er ist immer noch da. Riechst du ihn?«
    Feierlich beugte sie sich zu ihrer Tochter hinunter und ließ sie an ihrer Wange riechen. Francette atmete ein paarmal tief ein, die ernste Miene ihrer Mutter hatte sie überzeugt.
    »Das riecht sehr gut«, stellte sie fest.
    Dann fragte sie:
    »Maman, wenn ich groß bin, kann ich dann auch auf das Fest gehen?«
    »Natürlich, mein Schatz.«
    »Bin ich bald groß?«
    »Sehr bald, wenn du artig bist.«
    Denise berührte die kleine vertrauensvolle Hand, die ihren Finger umklammerte, zärtlich mit den Lippen. Sie war froh, daß sie angesichts dieser Unschuld, die mit so reinem Herzen einschlafen würde, weder Scham noch Bedauern empfand, wie sie befürchtet hatte. Gewiß, »sehr bald« würde Francette groß sein. Auch sie würde dann nachts ihren Herrn erwarten.
    Wenn sie einen Sohn gehabt hätte, wäre Denise vielleicht unruhiger und verwirrter gewesen. Doch angesichts dieser zukünftigen kleinen Frau, mit diesen Lippen, die einmal wohlriechend und verführerisch sein würden, mit diesem kleinen Körper, der sich schon auf die Liebe vorbereitete, gelang es ihr nicht, sich Klarheit zu verschaffen über das Ausmaß ihrer Verfehlung. Sie küßte das Kind, deckte es zu, zog ihm die Decke bis zum Kinn, und als sie das Zimmer verließ, zog sie behutsam die Tür hinter sich zu.
    Wieder in ihrem Zimmer, setzte sie sich auf das aufgedeckte Bett und wartete mit gebeugtem Nacken und verkrampften Händen ergeben auf das gebieterische Klopfen des Mannes.

10
    A m frühen Morgen hatte er sie verlassen. Denise schlief, den Kopf in der Armbeuge vergraben. Es war ihm tatsächlich so vorgekommen, als hätte er ein junges Mädchen in seinen Armen gehalten, so ungeschickt und unwissend war sie gewesen; das reizende Schauspiel, wie sie ihre Scham hatte überwinden müssen, als sie sich ihm hingab, hatte fast jungfräulich auf ihn gewirkt, und er hatte begriffen, daß sie trotz Heirat und Mutterschaft bis jetzt eigentlich noch keine Frau gewesen war.
    Sie war gerade mit ihrer Toilette beschäftigt, etwas zu spät, als ein Telegramm unter ihrer Tür durchgeschoben wurde. Sie hob es auf, öffnete es und las:
    Werde am 3. Oktober in Hendaye eintreffen.
Bin gesund. Kuß.
    Jacques.
    Sie senkte den Kopf, kurz – ganz kurz! – peinigten sie Gewissensbisse. Dann begann sie Überlegungen anzustellen, Daten abzugleichen … Yves würde seine Abreise um zwei Tage verschieben. Sie würde ihren Mann dazu bringen, auf der Stelle mit ihr nach Paris zurückzufahren; es begann ja schon kühl zu werden, und Francette wurde der verlängerte Aufenthalt am Strand auch allmählich langweilig. Spätestens am 4. oder 5. wäre sie in Paris. Ihr ganzes Leben würde sich ändern, welches Glück! Endlich Schluß mit den langen Tagen, an denen man mit Besuchen und Anproben die Zeit totschlägt, Schluß mit den endlosen Stunden der Untätigkeit und mit diesem Gefühl von Leere, von Langeweile, das ihr behagliches Frauenleben vergiftete. Man mußte jetzt eine kleine diskrete Wohnung ausfindig machen. Sie wußte, daß Yves allein lebte, aber es wäre doch viel amüsanter, zwei hübsche Zimmerchen zu haben, deren Einrichtungsgegenstände sie zusammen aussuchten, die sie mit Blumen füllen würde … Und die langen Spaziergänge durch Paris! Sie wußte, daß auch er die alten Straßen liebte, die alten Häuser, und sie stellte sich vor, wie schön es abends wäre, wenn in der Dämmerung die kleinen Laternen auf den auf der Seine vertäuten Kähnen angezündet würden und sie an den Quais entlangflanierten, wie sehr sie den Schatten, die Einsamkeit dort genießen würden. Gerührt rief sie sich gewisse kleine Bistros in der Nähe des stillen Flusses in Erinnerung, die ihr nach einem Besuch am linken Seineufer bei der Heimfahrt im Auto aufgefallen waren. Dort würde sie niemand entdecken; bei einem kleinen Händler an der Ecke würden sie heiße Maronen kaufen; sie würden in den Antiquitätenläden stöbern und dort für ihr, ja ihr gemeinsames Zuhause kleine lustige Souvenirs finden, kostspielige und bezaubernde Dinge, auch Bücher – sie liebten beide Bücher mit alten Einbänden und vergilbten, wurmstichigen Seiten. An anderen Tagen würde er sie aufs Land begleiten, in die silbrig schimmernden Wälder von

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