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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Nemirovsky
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morgen noch einen langen Tag vor uns, mein Liebster …«
    »Er ist nicht mehr so lang, Denise … Ich fahre morgen früh um sieben Uhr.«
    »Aber seien Sie doch nicht dumm«, sagte sie protestierend und mit einem kleinen Lachen. »Wozu so früh aufstehen, lieber Himmel, wenn es einen ausgezeichneten Zug um sieben Uhr abends gibt, der Sie übermorgen in Paris absetzen wird, pünktlich zu Bürobeginn?«
    »Es ist ein Zug, der nur Schlafwagen hat, und ich reise zweiter Klasse … Im Urlaub habe ich gelebt wie ein Herr; jetzt muß ich ein bißchen sparen …«
    Und etwas linkisch, doch auch stolz fügte er hinzu:
    »Es ist nicht meine Schuld, Denise, wenn ich zu den neuen Armen gehöre … Sie dürfen mir nicht böse sein …«
    »Aber nein, Yves …«, protestierte sie.
    Dann sagte sie schüchtern:
    »Es kommt mir vor, als wären Sie mir jetzt noch teurer, seit ich weiß, daß Sie nicht glücklich sind …«
    Er lächelte:
    »Ich bin sehr glücklich, Denise; aber nehmen Sie mir mein Glück nicht weg, meine Liebste, denn wenn Sie mich jetzt verlassen würden – ich glaube, ich könnte nie mehr allein leben wie vorher.«
    Und er wiederholte mit diesem Lächeln, das so charakteristisch für ihn war und seine harten Züge weich werden ließ:
    »Ich bin sehr glücklich.«
    Lange heftete er seine Lippen auf die kleine Hand, die er in der seinen hielt.
    »Wann werden Sie zurück sein, Denise?«
    »Am 5. oder 6. …«
    »So spät?«
    »Wir werden im Auto zurückfahren«, erklärte sie, und plötzlich war es ihr fast peinlich, daß sie in Luxus und Reichtum lebte und einen schönen Hispano-Suiza zur Verfügung hatte, der sie nach Paris bringen würde, während Yves sich in einem Waggon der zweiten Klasse durchschütteln lassen mußte.
    Doch er sagte nur:
    »Es ist eine schöne Fahrt … Früher bin ich diese Strecke oft gefahren … Aber die Straßen sind schlecht, vor allem bis Bordeaux … Sie müssen sich in acht nehmen … Fahren Sie nicht zu schnell … Ich werde mir schreckliche Sorgen machen …«

11
    I n Paris fielen gelbe Blätter von den Bäumen und vermoderten im feuchten Schmutz der Straßen. Alles war in Bewegung, überall war Lärm: Wie jeden Herbst sorgte der Salon de l’Automobile dafür, daß die Menschen aus der Provinz scharenweise in die Hauptstadt strömten.
    Jedes Jahr aufs neue entdeckte Denise als die echte Pariserin, die sie war, mit einem eigenartig tiefgehenden Gefühl von Zärtlichkeit den leichten Nebel wieder, den Geruch von Elektrizität und Benzin, den dunstigen, vornehm grauen Himmel über den hohen Häusern, den Trubel der Straßen und abends den Wirbel der Lichter, die sich von den Champs-Élysées bis zur Place de l’Étoile zogen. Gewöhnlich brach sie kurz nach ihrer Ankunft, nachdem sie ihr Bad genommen und den Dienstboten ihre Instruktionen gegeben hatte, zu einem langen Spaziergang auf. Mit gerötetem Gesicht kehrte sie zurück, in den Armen einen neuen Vorrat an Blumen, Chrysanthemen und Dahlien in kräftigen Farben, die nach Erde und Pilzen rochen. Dann räumte sie die Wohnung auf, füllte alle Vasen mit Blumen, nahm jede Nippfigur in die Hand und stellte sie vielleicht an einen anderen Platz, rückte Bilder gerade und Kissen zurecht, bis es ihr gelungen war, der Wohnung, die in den drei Monaten ihrer Abwesenheit unpersönlich und kalt geworden war, ihre gewohnte Wärme, ihren vertrauten Zauber zurückzugeben.
    In diesem Jahr war ihr Vergnügen beim Wiedersehen der Stadt fast wollüstig scharf und schmerzhaft. Sie hatte einen leisen Freudenschrei ausgestoßen, als sie Neuilly vor sich auftauchen sah, und als der Arc de Triomphe am Horizont erschien, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Doch zu Hause interessierte sie sich kaum für ihre Wohnung. Sie badete, zog ein bequemes Kleid an, wies die Stadtkleider zurück, die ihr das Mädchen brachte, und ging in den kleinen Salon, wo sie, den Blick fest auf die Wanduhr gerichtet, darauf wartete, daß Jessaint das Haus verließ. Was bald darauf geschah. Dann ließ sie sich das Telefon bringen, schloß sorgfältig die Tür und verlangte mit zitternder Stimme die Nummer von Yves’ Büro.
    »Hallo?« ertönte eine müde Stimme.
    »Guten Tag, Yves; ich bin’s, Denise …«
    Eine kleine Pause, dann die gleiche Stimme, kaum verändert:
    »Sie, liebe Freundin … Hatten Sie eine gute Reise?«
    Sie spürte die Gegenwart eines Fremden in seiner Nähe und beeilte sich, einige banale Sätze zu sagen. Dann fragte sie ängstlich:
    »Ich werde Sie

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