Das Missverstaendnis
Fontainebleau, und im Frühjahr würde sie es so einrichten, daß sie miteinander zu Abend essen konnten, in der Vorstadt, in einer Gartenlaube, an einem kleinen Teich, wo die Frösche quakten. Denn es war undenkbar für sie, daß ihre Liebe bis zum nächsten Frühjahr vorbei sein könnte; sie gehörte zu jenem Schlag Menschen, für die die Liebe nicht anders als ewig sein kann. In einer einzigen Aufwallung zärtlicher Gefühle hatte sie sich ihm ganz und gar hingegeben, und im Gegenzug erwartete sie nichts anderes, als daß er sich ihr auf dieselbe Weise schenkte; sie war erfüllt von einem naiven, maßlosen Vertrauen, wie ein Kind, das sie auch noch war. Sie zerknüllte die Nachricht ihres Mannes, warf sie auf den Tisch und fuhr fort, sich anzukleiden; ihr Herz war voller Zärtlichkeit, und sie war von der tiefen Überzeugung durchdrungen, etwas getan zu haben, was sie auf immer mit Yves verband, etwas, was nur mit der glühenden Ergebenheit einer Ehefrau zu vergleichen war.
Der Tag ging seltsam schnell vorüber; ein starker Wind wehte, und Regen und jähe Blitze ließen das Meer zuweilen hell leuchten wie eine riesige silberne Scheibe. Ohne sich um Schmutz und Schlamm der ländlichen Wege zu kümmern, machten Denise und Yves ihren letzten Spaziergang. Die Bäume, vom Sturm gebogen, verloren schon ihre Blätter; in dieser Gegend, in der das Wetter sich zu jeder Stunde mit unerhörter Schnelligkeit ändern kann, hatte eine einzige regnerische Nacht genügt, um die am Vortag noch sonnenüberflutete Landschaft in ein trübes Herbstpanorama zu verwandeln. Ochsengespanne zogen vorbei. Große Seevögel flogen in einer langen Reihe ins Landesinnere; hoch am Himmel, mit pfeifenden Schwingen. Yves und Denise gingen zum alten Hafen hinunter; die blaßroten Steinstufen dort, vom unaufhörlich anbrandenden Meer poliert, schimmerten wie kostbarer Marmor; die alten Mauern der Stadt, die Fischerboote, die Villa von Pierre Loti mit ihrem dichtbewachsenen Garten und den verblichenen grünen Fensterläden – all das verdoppelte sich in Form von beweglichen Reflexen im Wasser. Yves hielt Denise eng an sich gedrückt; sein Gesicht, das sonst so müde und immer ein wenig traurig ausgesehen hatte, schien sich durch den Ausdruck einer glühenden Zärtlichkeit verjüngt zu haben.
Denise bat ihn, noch zwei Tage mit ihr in Hendaye zu bleiben; ihre Stimme erklang auf einmal voller Gewißheit: sie war sich seiner Antwort sicher. Doch es kam anders. Yves, der plötzlich sorgenvoll wirkte, betrachtete sie erstaunt und sagte:
»Aber Denise, übermorgen ist der 1. Oktober … Am 1. Oktober endet mein Urlaub … Übermorgen muß ich in Paris sein …«
»Wartet jemand auf Sie?«
»Leider ja – mein Büro!«
»Ach, zwei Tage mehr oder weniger, was macht das schon aus?«
»Zwei Tage mehr oder weniger können mich meine Stelle kosten«, erklärte er ihr behutsam.
Darauf wußte sie nichts mehr zu erwidern. Sie hatte nie daran gedacht, ihn nach seiner Arbeit zu fragen. Ihr Mann hatte ihr gesagt, daß Yves reich sei; verschwommen hatte sie sich vorgestellt, daß er von irgendwelchen Geschäften lebte, wie Jacques und wie die meisten Männer seiner Welt, Geschäften, von denen Frauen wie sie nichts verstanden, es sei denn, man übersetzte sie ihr in Zahlen – sechsstellige Zahlen zumeist. Als verwöhntem Kind, einziger Tochter eines vermögenden Industriellen und Gattin eines Mannes, der viel Geld verdiente, waren ihr gewisse Seiten des materiellen Lebens notwendigerweise immer ein Rätsel geblieben. Sie begriff nun, daß Yves kaum mehr war als ein Angestellter, und die Vorstellung seiner Abhängigkeit, die mit seinen Büropflichten verbunden war, schockierte und enttäuschte sie. Er war also arm? Aber wie hatte er denn in Hendaye leben können, wo er mindestens hundert Francs am Tag ausgeben mußte? Sie verstand es nicht recht … Auch andere wären natürlich überrascht gewesen, wenn sie von dieser Lebensweise erfahren hätten, bei der man sich das Notwendige versagt, um sich das Überflüssige leisten zu können. Doch angesichts der unvermittelt hart gewordenen Miene ihres Geliebten wußte sie, daß sie jetzt nicht in ihn dringen durfte. Er saß auf den Stufen des Hafens. Sie begnügte sich damit, ihm die Hand auf die Stirn zu legen. Sanft zog sie den widerstrebenden Kopf an sich, und endlich gab er nach und lehnte ihn gegen ihre Hüfte; sie drückte ihn an sich.
»Yves!«
Dann murmelte sie:
»Du fährst, wann du willst … Wir haben
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