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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Lempke
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mit dem geringsten Restrisiko, die allerdings einiges an Vorbereitung erforderte.
    Erst einmal wechselte Rike den Standort. Eine reine Vorsicht smaßnahme. Sie fuhr über die Autobahn zur nächsten Raststätte, kaufte an der Tankstelle eine Flasche billigen Branntwein und eine Baseballkappe und fuhr zurück in die Stadt. Als sie das Ortsschild passierte, ging am Horizont gerade die Sonne als blutrote, riesige Kugel unter. Johanns letzter Tag als lebender Mensch neigte sich dem Ende zu.
    Und für sie selbst kam jetzt der schwierige Teil des Plans. Sie musste ein Auto stehlen, und das hatten ihr weder ihre Eltern noch die Lehrer in der Schule beigebracht. Ihren eigenen W agen stellte sie neben der Barockkirche ab, in der sie damals Achim geheiratet hatte. Vielleicht war es ja doch Gott persönlich, der seine Hand über sie und ihr Tun hielt.
    Mittlerweile war es dunkel geworden. Rike hängte sich ihre Handtasche um, stieg aus, zog den Mantel ihres Vaters darüber, knöpfte ihn zu und schlug den Kragen hoch, so dass man ihre zusammengesteckten Haare kaum noch sah. Dann setzte sie sich die Baseballkappe auf und verteilte reichlich Branntwein über den Mantel. Sie war sicher, dass man sie im Dunkeln selbst aus einer Entfernung von nur einem Meter für einen älteren, betrunkenen Mann halten würde.
    So vorbereitet streifte sie in leicht schwankendem Gang durch die Innenstadt auf der Suche nach einem unverschlossenen Wagen, dessen Besitzer den Schlüssel hatte stecken lassen. U nter normalen Umständen ein blauäugiges Unterfangen, aber Rike war überzeugt, dass ihr die Vorsehung auch diesmal unter die Arme greifen würde.
    Sie schaute in jedes der am Straßenrand geparkten Autos hinein, aber niemand hatte freundl icherweise den Schlüssel vergessen. So arbeitete sie sich durch die Straßen rund um den Marktplatz.
    An diesem kühlen, dunklen Septembersamstagabend waren nicht viele Menschen unterwegs. Wahrscheinlich saßen sie in den umliegenden Kneipen oder amüsierten sich in Kinos oder zu Hause vor dem Fernseher. Ihr Weg führte Rike schließlich zu einem winzigen Platz, der etwas abgelegen war. Eine Akazie stand darauf, eine Kunststoffbank und eine fast ausgestorbene Sehenswürdigkeit: eine Telefonzelle. An einer Hauswand neben dem Baum hingen ein Zig arettenautomat und ein Briefkasten.
    Dieser Briefkasten faszinierte sie. Sie stellte sich in den Eingang eines Geschäfts auf der a nderen Straßenseite und ließ den Briefkasten am Rande des winzigen Platzes nicht aus den Augen. Keine zwei Minuten später näherte sich von rechts ein silbergrauer Wagen und hielt an der Bordsteinkante ihr direkt gegenüber an. Ein junger Mann, der einen Stapel Briefe in der Hand hielt, sprang heraus und trabte um sein Auto herum zu dem Briefkasten hinüber.
    Die Tür des Wagens war nur angelehnt, der Motor lief. Und während der nette , junge Mann einen Brief nach dem anderen in den Kasten steckte, handelte Rike. Mit großen, taumelnden Schritten marschierte sie auf den Wagen zu, der teuer und schnell aussah, riss die Tür auf, warf sich auf den Fahrersitz, schlug die Tür zu, löste die Handbremse und trat aufs Gas.
    Der Mann hatte mitbekommen, wie sie sich plötzlich auf seinen Wagen zu bewegt hatte, stand aber vor Überraschung wie angewurzelt da und konnte ihr und seinem kostbaren Auto nur hinterher schauen. Rike schaffte es, ein paar Schlangenlinien zu fahren, damit der Fahrzeugbesitzer später der Polizei sagen konnte, sein Wagen sei von einem Betrunkenen gestohlen worden.
    Dann brauste sie zur Stadt hinaus, bog nach links ab und befand sich fünf Min uten später im dichtesten Wald der Umgebung, wo sie auf einem kleinen Parkplatz für Waldspaziergänger gleich neben der Straße anhielt. Am äußersten Ende war dort nur ein Wagen abgestellt, dessen Scheiben von innen beschlagen waren. Ein Liebespaar. Rike verspürte einen Anflug von Neid, der plötzlich in pure Wut umschlug. Johann musste endlich zur Rechenschaft gezogen werden!
    Ungeduldig knöpfte sie den Mantel auf, holte das Handy aus ihrer T asche und rief Johann an. Es war wie ein Boxhieb in den Magen, als sie seine Stimme hörte.
    „Ja?“
    Rike gab sich die allergrößte Mühe, normal und sachlich zu reden. „Ich bin’s, deine zwölfte Ehefrau … oder doch die sechszehnte? Wie geht’s dem Fuß?“
    Sekundenlang ließ Johann nichts von sich hören. Dann gab er eine Antwort, frostig wie die Temperaturen in einer Januarnacht. „Er musste genäht werden, aber ich kann

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