Das mittlere Zimmer
näher. Ahnte er, dass sie sich hinter dem Sessel versteckte? Jedenfalls schien er geradewegs darauf zuzusteuern. Als einer seiner Füße in einem hellbraunen Slipper neben der Sesselkante sichtbar wurde, entschied sie sich zuzustechen. Sie hob das Messer, Spitze nach unten und trieb den Stahl mit beiden Händen und aller Kraft von oben durch den Schuh, durch den Fuß, in den Boden. Johann schrie nicht, er brüllte.
Rike ließ das Messer stecken, sprang auf, hetzte um den Sessel, griff nach ihrer Handtasche, die auf dem Tisch lag, sah sich nicht um, lief in den Flur, riss einen Mantel vom Haken neben der Tür und zog sie zu. Bis ins Treppenhaus war Johanns Gebrüll zu hören.
Rike rannte nach draußen, bekam Panik, als sie ihren Wagen nicht vor dem Haus stehen sah, erinnerte sich zehn Sekunden später daran, dass sie ihn in der Seitenstraße geparkt hatte, lief zu ihm hin und fuhr los. Einfach irgendwohin in die Stadt. Sie fuhr kreuz und quer durch die Straßen, mit aufgeregt klopfendem Herzen, mit Wut im Bauch, mit einer Frage im Kopf, die um sich selbst kreiste: wo zum Teufel konnte sie in Ruhe einen vernünftigen Plan schmieden?
Wieder grenzte es an ein Wunder, dass sie keinen Unfall baute. Sie überfuhr eine rote Ampel, nahm zwei Radfahrern die Vorfahrt und fühlte sich immer wieder von Autos verfolgt, die zu lange hinter ihr herfuhren. Ein dunkelblauer Kombi, dessen Kennzeichen sie nie richtig e rkennen konnte, kam ihr besonders verdächtig vor.
Aber auch ihn verlor sie irgendwann aus den Augen, und plötzlich fiel ihr Blick auf die Sankt-Antonius-Kirche, an der sie sicher schon dreimal vorbeigefahren war. Dort musste sie sich verstecken, dort war es ruhig, dort würde sie ungestört nachdenken können.
Sie stellte ihren Wagen einen guten halben Kilometer weiter auf einem großen Platz am Stadtpark ab und ging zu Fuß zurück zur Kirche. Das Wetter war schon den ganzen Tag durchwachsen und nicht eben warm gewesen. Jetzt rissen wieder einmal die hellgrauen Wolken auf und ließen ein paar Sonnenstrahlen hindurch.
In der Kirche saß höchstens ein Dutzend Leute im größtmöglichen Abstand zueina nder in den Bankreihen. Rike suchte sich ebenfalls einen weit von den anderen entfernten Platz und ließ sich auf einer harten Holzbank nieder.
Langsam atmete sie ein paar Mal ein und aus und schaute nach oben auf eins der vielen Spit zbogenfenster, dessen buntes Glas gerade von einem Sonnenstrahl erleuchtet wurde. Hatte die Macht, das Schicksal oder Gott persönlich sie hierher geführt, damit sie sich an diesem Ort den perfekte Plan zurechtlegen konnte?
Ihr Gehirn fing an zu arbeiten. Johanns Tod musste unbedingt nach einem Unfall aussehen, damit sie nicht in Verdacht geriet. Was für Sorten Unfälle gab es? Es gab die normalen und häufigen und dann die skurrilsten, die man sich überhaupt denken konnte. Aber ein normaler Unfall war zweifellos unverdächtiger und leichter einzufädeln und daher vorzuziehen. Sie konnte doch beispielsweise -
„Frau Wolter?“ , flüsterte eine Stimme neben ihrem Ohr.
Rike sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Überzeugt, dass es Johann war, drehte sie sich um. Aber in der Bankreihe hinter ihr stand ein mittelgroßer, kräftig wirkender Mann in dunkelgrüner Sportjacke. Sehr kurz geschnittenes, braunes Haar, eher rundes, weiches G esicht, jünger als Rike, blaue, etwas zu weit auseinander liegende Augen.
Er lächelte nicht, sondern sah sie mit durchdringendem Blick an. Rike hatte eine Vora hnung - das war der Auftragskiller! Er beugte sich vor, stützte sich mit den Händen auf die Rücklehne der Bank und flüsterte: „Ich wollte Sie nicht erschrecken, Frau Wolter. Ich bin Privatdetektiv Bachmann. Dr. Wolter, Ihr Mann, schickt mich. Es geht ihm nicht gut, und ich soll Sie zu ihm bringen, damit er etwas mit Ihnen besprechen kann.“
Für wie blöd hielten die beiden sie eigentl ich?! Sie würde doch nicht zu dem Mann ins Auto steigen! Er hatte ihr die Antwort wohl vom Gesicht abgelesen, denn er beugte sich noch ein Stückchen weiter vor (sie roch Zigarettenrauch in seinem Atem), sein Blick wurde härter, sein Flüstern zu einem Zischen. „Ich habe den Auftrag, Sie nach Hause zu bringen, und ich werde den Auftrag ausführen, so oder so. Kommen Sie nun freiwillig mit?“
Rike schaute sich um. Würde der Kerl es wagen, sie vor all diesen Leuten gewaltsam aus der Kirche zu schleifen? Oder würde er sie gleich hier erschießen? Sie sah ihm wieder in die A ugen, und die
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