Das mittlere Zimmer
der Schrecken, und Schrecken konnte man überwinden, wenn man an etwas anderes dachte. Wenn man zum Beispiel an das dachte, was als nächstes zu tun war: von diesem Ort verschwinden und Johann umbringen, bevor Notärzte und Polizei auftauchten!
Vorsichtig tastete sie sich am Wagen entlang nach hinten und sah, dass auf der Straße der erste Helfer angehalten hatte. Aus einem weißen Lieferwagen mit der Aufschrift ,Hausmeisterservice‘ sprang ein Mann mit erschrockenen Augen heraus und eilte auf Rike zu.
„Rufen Sie den Notarzt, da ist jemand gegen den Baum gefahren!“ , sagte sie mit schwacher Stimme und tat so, als gehöre sie gar nicht dazu.
Der Mann im grünen Overall lief auf die linke Seite des Autos, sah durch die Scheibe, wurde noch ein bisschen blasser und zog ein Handy aus einer seiner vielen Taschen.
Rike bewegte sich indessen auf immer noch unsicheren Beinen über die Straße, während schräg gegenüber zwei weitere Autos am Straßenrand anhielten. Mehrere Personen stiegen aus und eilten auf den am Baum zerschellten Wagen zu.
Sie wandte sich ab und ging auf dem Grünstreifen neben der Straße zurück in Ric htung Stadt. Niemand kümmerte sich um sie oder hielt sie auf. Als der Unfallort hinter der nächsten Kurve kaum mehr zu sehen war, hob Rike den Daumen und ließ sich von einer Frau in einem kleinen, roten Auto mit in die Stadt nehmen. Unterwegs kamen ihnen ein Polizei-, ein Notarzt- und ein Rettungswagen entgegen. Gut, sollten sie retten, was noch zu retten war. Johann jedenfalls war nicht mehr zu retten, schwor sich Rike, presste die Lippen zusammen und starrte aus dem Fenster auf die größtenteils abgeernteten Felder.
In der Nähe des Stadtparks stieg Rike aus, gönnte sich in einem Café ein Stück Kuchen, zwei Tassen Kaffee und einen Gang zur Toilette, kaufte sich im Supermarkt nebenan ein paar Dosen Cola, Nüsse und Schokolade und spazierte, die Umgebung genau im Auge behaltend, langsam zu ihrem Auto zurück, das sie so, wie sie es abgestellt hatte, auf dem Parkplatz am Stadtpark vorfand.
Sie fuhr zur nächsten Tankstelle, machte den Tank bis oben hin voll und kreuzte ziellos ein paar Mal durch die Stadt. Die smal schien ihr niemand zu folgen. Schließlich nahm sie die Autobahn, die zur nächsten Großstadt führte, und hielt an der ersten Raststätte an. Zwei Familien mit Kindern und ein halbes Dutzend LKW-Fahrer machten dort ebenfalls Pause. Rike war dankbar für ihre Anwesenheit: sie kam sich allein und unwirklich vor in den Kleidern ihres Vaters, fern von ihrem Zuhause, in das sie nicht zurückkehren durfte.
Deprimiert verschlang sie fast die ganze Tafel Schokolade, trank Cola, lehnte sich auf ihrem Sitz zurück und vergoss ein paar Tränen.
Dann dachte sie wieder an Johann und riss sich zusammen. Welchen Plan mochte er haben? Was, glaubte er, hatte sie vor? Sicher würde er niemals damit rechnen, dass sie zurückkam in die Höhle des Löwen. Oder aber er würde denken, dass sie genau das dachte. Nein, es wäre dumm und gefährlich, ihn in seinem Haus umzubringen. Auch wenn es noch so sehr nach Unfall aussah, so wäre doch sie, Rike, Ehefrau und Erbin eines Vermögens, die erste Verdächtige für die Polizei. Und eigentlich wollte sie die Polizei auf keinen Fall im Haus haben. Nein, der Gedanke rief eine eigenartige Abneigung in ihr wach. Nein, sie musste Johann aus dem Haus herauslocken.
Langsam hob sie die Coladose zum Mund, trank und blickte abwesend auf die Raststätte mit dem tiefgezogenen Schieferdach, die freundlich und einladend vor dem Wald stand. Viel e Bäume trugen bereits braunrot gefärbte Blätter. Aus der Tür des Restaurants etwa fünfzig Meter entfernt trat eben ein Mann. Mittelgroß, schlank, Jeansjacke, blonde Haare, Vollbart.
Rike hielt die Luft an. Das konnte nicht sein! Sie beobachtete, wie der Mann ohne zu hu mpeln auf einen LKW zuging. Gott sei Dank, das war nicht Johann!
R asch kehrte sie zu ihren Mordplänen zurück. Alles, was sie sich ausmalte, betrachtete sie von verschiedenen Seiten: nur keine dummen, vermeidbaren Fehler machen! Natürlich konnte man unmöglich alle Unwägbarkeiten eines solchen Unternehmens vorhersehen. Besonders das Verhalten der zu tötenden Person war schwer berechenbar.
G ute anderthalb Stunden später wurde ihr klar: Außerhalb des Hauses gab es kaum eine Handvoll Unfallarten, die tödlich für Johann, glaubwürdig für die Polizei und praktikabel für sie selbst waren … sie entschied sich schließlich für die Unfallart
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