Das mittlere Zimmer
schleuderte das Heft von sich.
Sie ist tot, flüsterte es noch einmal, und Rike wurde übel und schwindlig zugleich, das Zimmer begann zu schwanken und vor ihren Augen zu verschwimmen, und sie merkte, wie sie zu Boden sackte. Wie in Zeitlupe. Sie merkte, wie ihr Kopf auf dem Boden aufschlug, aber sie spürte keinen Schmerz. In ihren Ohren rauschte es. Ihr Herz tobte. Die Gedanken rasten. Rasten auf einen Punkt zu. Auf den Punkt, an dem sie verrückt werden würde. Verrückt und wahnsinnig vor Schmerz.
Zuerst lag sie reglos auf dem dicken blauen Teppichboden, doch plötzlich rollte sie sich auf der Seite zusammen und steckte zwei Fi nger in den Mund.
Wahnsinnig, ja, sie wurde soeben wahnsinnig. Denn sie konnte nicht weiterl eben, wenn sie nicht verrückt wurde. Mit einem solchen Schmerz konnte sie nicht leben, ein solcher Schmerz würde sie stückchenweise bei lebendigem Leib auffressen!
Wie besessen saugte Rike an ihren Fingern. Sie erahnte den Schmerz schon, aber noch hatte er ihre Seele nicht erreicht. Irgendetwas schien ihn aufzuhalten. Würde er doch nie bei ihr ankommen! Würde sie ihn doch nur abwehren können! Würde sie doch in diesem Augenblick einfach einschlafen und nie mehr aufwachen!
Und tatsächlich: eine Welle aus Schläfrigkeit flutete auf einmal durch ihren ganzen Körper, und ihre Gedanken und Gefühle drifteten ab in eine große Leere ... wie lange sie darin trieb, wusste sie nicht ... bis plötzlich aus dem Nichts ein Gefühl auftauchte, wild und gewaltig: Wut.
Johann hatte Hannah absichtlich nicht gerettet! Er hatte sie vorsätzlich sterben lassen! Er hatte sie umgebracht!
Angeblich liebte er Rike - und dann tötete er ihr Kind?! Was für eine perverse Art von Liebe war das?! Der Mann war krank! Geisteskrank!
Ein so furchtbarer Zorn flammte in ihrem Kopf auf, dass sie die Finger aus dem Mund riss, sich auf die Knie drehte und mit den Fäusten ein paar Mal auf den Teppich und gegen den Schreibtisch hämmerte. „Ich hasse dich, du gottverdammter Mörder! Du Bestie! Du Ung eheuer! Ich hasse dich!“ Bis in alle Ewigkeit würde sie dieses Monster hassen!
Plötzlich hielt sie schwer atmend inne. Ihre Augen weiteten sich. Etwas wie ein Schatten schien durch ihren Kopf zu gehen ... hier herein ... dort hinaus ... aber er ließ etwas zurück. Eine Idee. Eine große Idee: Es musste etwas zu bede uten haben, dass sie der erste Mensch in Johanns langem Leben war, der alle seine Geheimnisse herausgefunden hatte und bisher nicht erwischt worden war!
Es bedeutete (Rike stand auf und schaute aus dem Fenster), es bedeutete, dass sie zu etwas bestimmt war! Sie war von Gott, vom Schicksal, von wem oder was auch immer, dazu ause rwählt worden, dem Treiben des Johann Wolter alias Johann Distelrath ein Ende zu setzen!
Rike atmete tief durch und stellte fest, dass aller Schmerz und alle Übe lkeit verschwunden waren. Ja, sie war auserwählt, den Mann, der ein kaltblütiger Massenmörder war, für seine Schandtaten zu bestrafen! Und sie war auserwählt, die blaue ,Isis‘ ein für alle Mal zu vernichten!
Diese Idee erfüllte sie mit einer seltsamen Kraft. Mit einer Art bitterer Entschlo ssenheit. Mit einem ruhigen, tödlichen Hass.
Sie suchte nach dem weggeworfenen Heft, hob es auf und stellte es in die unterste Reihe z urück. Dann sah sie sich um, mit dieser eigenartigen Ruhe und einem ihr selbst unheimlichen Scharfblick, aber alles war in Ordnung, und so kroch sie durch die Öffnung, die sie verschloss, als sie im Trockenspeicher angekommen war.
Anschließend ging sie in ihr Zimmer, setzte sich auf ihr Bett und überlegte konzentriert und kalt, wie sie vorzugehen hatte. Inzwischen war es halb sieben und Johann würde bald auftauchen. Das Wichtigste war jetzt natürlich, dass er nicht misstrauisch wurde. Denn wenn er Verdacht schöpfte, schwebte sie in Lebensgefahr!
Rike stand auf, im Kopf jetzt etwas wie leichte Benommenheit. Unwirklich, sie fühlte sich unwir klich. Sie ging über den Flur in die Küche, setzte Kaffee auf und begann einen Auflauf vorzubereiten. Während sie die Form einfettete, schoss ihr kurz der Gedanke durch den Kopf, vielleicht doch lieber die Polizei einzuschalten.
Aber hatte das einen Sinn? Johann war in se inem ganzen Leben kein einziges Mal angeklagt worden. Er hatte Geld, er hatte Einfluss, er hatte Beziehungen. Wahrscheinlich landete eher sie in der Psychiatrie, als er vor Gericht!
Rike schob den Auflauf in den Backofen, setzte sich mit einer Tasse Kaffee an den Tisch
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