Das mittlere Zimmer
Testament und eine Auflistung von Johanns Gräuelt aten bei einem Notar hinterlegen? Sie könnte sogar die Tagebücher mit den Mordgeständnissen hinzufügen. Aber würde jemand die ungeheuerlichen Schilderungen ernst nehmen? Waren sie noch zu beweisen?
Andererseits konnte ihr doch so oder so nichts passieren.
Ihre Gedanken wanderten ein wenig unentschlossen zurück zu Johanns Medikamentenschrank. Womit konnte man einen Menschen längerfristig vergiften? Arsen gab es da unten vermutlich nicht, und ihre Medizinkenntnisse waren auch nicht überwältigend. Johann hatte ihr einmal erzählt, viele Gifte aus der Natur seien in der richtigen Dosierung wahre Wunderheilmittel, wie zum Beispiel ... wie hieß das noch ... Digitalis. Genau, er hatte ein digitalishaltiges Medikament in seinem Schrank.
Moment, hatte er nicht auc h gesagt, man dürfe Tieren das Mittel auf keinen Fall geben? Warum stand es dann da? Hatte er es selbst nehmen müssen, kürzlich, als er noch aussah wie Mitte 60?! Sehr gut möglich.
Rike wurde noch ein bisschen wacher. Konnte sie Johann damit umbringen? Zumindest ve rsuchen sollte sie es. Natürlich hätte sie das Zeug googlen können, aber wenn Josef auf seinem PC oder in ihrem Handy herumspionierte und fand, wonach sie gesucht hatte, war sie fällig. Sie warf die Bettdecke zurück, verließ das Bett, nahm ihre Taschenlampe, schlich sich aus dem Zimmer und, ständig nach allen Seiten lauschend, die Treppe hinunter.
Es war Viertel nach fünf und daher eher unwahrscheinlich, dass Joh ann bereits auf den Beinen war. Das Döschen mit den Digitalis-Tabletten fand Rike sofort. Sie versuchte es so weit wie möglich in ihrer Hand zu verbergen, und stieg geräuschlos die Treppen hinauf. Sie versteckte die Tabletten ganz hinten in ihrer Nachttischschublade, legte sich wieder ins Bett und drehte sich auf den Rücken. Dann schloss sie die Augen, steckte die Finger in den Mund und vertiefte sich konzentriert in die Frage, wie sie Johann das Gift am unauffälligsten verabreichte.
Um halb sieben stand sie auf, denn sie wollte unbedingt die erste in der Küche sein. Sie holte das Döschen mit den Tabletten heraus, das sie in ihrer Hosentasche in die Küche geschmuggelt hatte, und öffnete es. Noch über die Hälfte der Tabletten war da. Sie schüttete sie in ein Glas, halbgefüllt mit warmem Wasser, und löste sie auf, so gut es ging.
Allerdings hatte sie nicht die blasseste Ahnung, wie sie das Medikament dosieren sollte - einen Beipackzettel gab es nicht mehr. Gegen sieben Uhr deckte sie den Tisch mit dem blauen Geschirr, kochte Kaffee und träufelte einfach eine dünne Schicht der fast farblosen Flüssigkeit auf den Boden von Johanns leerer Kaffeetasse. Wenn man nicht direkt von oben in die Tasse guckte, sah man sie gar nicht. Den Rest der aufgelösten Tabletten goss sie in ein leeres Fläschchen, von denen Johann einige herumstehen hatte. Dieses Fläschchen verstaute sie wieder in ihrer Nachttischschublade.
15 Minuten später kam Johann zur Küchentür herein. Liebevoll lächelnd kam er schnurstracks auf Rike zu. „Guten Morgen, Liebes. Scheint dir besser zu gehen.“
„Ja, ein bisschen.“ Rike lächelte zurückhaltend.
Johann nahm sie in den Arm und küsste sie. Sein Atem roch nicht allzu frisch. Rike ekelte sich. Sie schwor sich, dass dies der letzte Kuss war, den sie sich von ihm geben ließ.
Johann setzte sich auf seinen Platz am Küchentisch, jetzt wieder leichte Besorgnis im Blick. „Hast du gut geschlafen? Wie sieht’s mit deiner Stimmung aus? Hast du deine Tablette g enommen?“
Rike holte die Kaffeekanne aus der Maschine und ging zum Tisch hinüber. „Ich hab prima geschlafen, aber ich bin ziemlich früh wach geworden und hatte Zeit nac hzudenken. Ich hab mir überlegt, nächste Woche eine Therapie anzufangen.“ Sie schenkte erst Johann, dann sich Kaffee ein. Er schien die Tropfen in seiner Tasse nicht bemerkt zu haben. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass das ,Medikament‘ nicht irgendwie auffällig schmeckte.
„Ja, das ist die richtige Entscheidung. Und ich werde dir helfen, wo ich nur kann.“ Johann nahm sich eine Scheibe Brot und bestrich sie mit Butter. „Und wie ist es mit der Tablette?“
„Ja doch, sofort! Aber ich probier’s erst mal mit `ner halben, sonst schlaf ich ja den ganzen Tag!“ Sie trank einen Schluck Kaffee und beobachtete aufmerksam Johanns Reaktion, als er seine Tasse an den Mund setzte, einen Schluck nahm - und anscheinend nichts merkte. Trotzdem konnte es
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