Das Möwennest (Het Meeuwennest) (German Edition)
Wolke aus Schmerzen, die Sems Sinne vernebelte, bemerkte er, dass Sklaaten zufrieden grinste.
„Ich wusste, du würdest kommen“, sagte er und trat Sem mit einem satten Ausfallschritt auf die Überreste von dessen rechter Hand.
„ Aaargh !“
Schwärze trat in Sems Augen. Verzweifelt hieb er blind mit der Taschenlampe nach dem Fuß. Er traf nur Luft, doch der Druck ließ etwas nach und die drohende Ohnmacht wich aus seinem Bewusstsein.
„Ich warte schon viel zu lange auf dich. Muss endlich hier weg. Du bist gekommen, um mich abzulösen, Junge.“
Ari ging neben Sem in die Hocke, so dass dieser das Gesicht detailliert erkennen konnte. Er war ein großer, muskulöser Mann, ohne Frage. Sem hatte viele Fotos gesehen, die seinen jetzigen Eindruck bestätigten. Die Züge kamen ihm erschreckend bekannt vor, nur älter, ausgemergelter, hoffnungsloser, als er sie in Erinnerung hatte. Aus seinem Innersten dämmerte ein fürchterlicher Gedanke.
Ich kenne das Gesicht. Aber es gehört nicht Ari Sklaaten.
Sem schüttelte heftig den Kopf.
Nein, das kann nicht sein!
Als er sich wieder auf den neben ihm Knieenden konzentrierte, der in diesem Moment wirres Zeug zu faseln begann, fiel ihm noch etwas auf, das den Gedanken bestärkte, ja geradezu betonierte.
Sklaatens Haare waren blond. Jeder wusste das. Auf allen Fotos des exzentrischen Kochs, die Sem je zu Gesicht bekommen hatte, waren sie blond gewesen, reinstes naturfarbenes Strohblond. Die Haare des Mannes waren dunkler, vielleicht braun, aber keinesfalls blond. Und sie waren nicht richtig gekräuselt. Höchstens etwas verfilzt, wie das Fell eines streunenden Hundes.
„Kommst um mich abzulösen. Hab gewartet. Lange gewartet“, zischte der Mann und packte sich die verletzte Hand. Sem versuchte sich gegen den Griff zu wehren, was zur Folge hatte, dass dieser noch intensiver und fester wurde. Kraftlos schlug er mit der Taschenlampe nach dem Mann, der nicht Ari Sklaaten war.
„Die Hand, die Hand. Muss bleiben. Darf nicht geh ‘n. Finger bleiben. Menschen gehen. Seit jeher. Schon immer. Möwen hab’n ‘s geseh‘n “
Die Stimme wurde immer mehr zu wirrem Gebrabbel. Es wechselte immer schneller in Lautstärke, Tempo und Stimmhöhe. Dazwischen schoben sich Gluckser und Krächzer.
„Kommt auf die Insel. Möwennest hab’n sie’s genannt. Sandbank der Möwen. Tote Möwen. Kommen her und geh ‘n nie mehr weg. Werd’n hergebracht, wird die Hand abgemacht. Hand, Fuß oder Kopf. Das ist die Strafe.“
Sem sah den Wahnsinn in Ari Sklaatens Augen aufblitzen. Ari, der nicht Ari war, sondern jemand, den Sem gut kannte. Er wollte es nur nicht wahrhaben. Denn der Mann dem das Gesicht gehörte war tot. Vor Jahren gestorben.
„Gekommen, um mich abzulösen. Wächter vom Nest. Strafe fürs Herkommen. Die Hand. Die Hand ist das Pfand“, schrie die Gestalt mit wutverzerrtem Gesicht und riss an Sems Arm. Die Augen verengten sich zu schlitzen, ein triumphierendes, böses Lächeln blitze auf. Das Beil sauste durch den Regen, bevor Sem irgendwie reagieren konnte. Als er begriffen hatte, war es zu spät. Geräuschvoll durchdrang es Muskeln, Knochen und Haut, bis es tief im Holz der nassen Planke stecken blieb. Sem schrie nicht. Die Ohnmacht kam zurück, um ihn zu holen. Alles wurde nach und nach schwarz. Er konnte kaum mehr sehen. Spürte den hämmernd pulsierenden Armstumpf. Fühlte wie das Blut aus der Arterie spritzte. Hörte aus weiter Ferne:
„Bist hier, bleibst hier. Die Hand besiegelt’s Band. Kommst nicht mehr weg. Bin frei. Endlich frei.“
Irgendwo zwischen Ohnmacht und Bewusstsein sah Sem wie das Beil im Licht der Taschenlampe glänzte. Der Mann hob es hoch über seinen Kopf, stieß in derselben Sekunde einen unmenschlichen Schrei aus und verschwand aus seinem Blickfeld. Um ihn herum wurde es dunkel.
Die Hand ist das Pfand. Bist gefangen, bis einer deinen Platz einnimmt, dröhnte es hinter seiner Stirn noch eine Weile nach. Immer wieder, leiser und leiser. Zum Schluss war da noch das Krächzen einer einzelnen Möwe und als das erstarb, gab es nur noch Stille und Finsternis.
***
Harry hatte versucht, das Messer in den Rücken der düsteren Gestalt zu rammen. Weil die stumpfe Klinge jedoch abglitt, durchdrang sie den Regenmantel oberhalb der linken Schulter und schnitt dort ins Fleisch, statt sich von hinten hindurch zu bohren.
Das Überraschungsmoment war vertan. Die Gestalt schrie und fiel zur Seite. Aber in Windeseile rappelte sie sich auf und
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