Das mohnrote Meer - Roman
diese Taue waren aus Kokosfasern, man hat sich daran Hände und Füße zerschnitten.
Das war sogar für erfahrene Leute schwierig, weil man oft mit nach unten hängendem Körper klettern musste. Für einen wie Miguel war das praktisch unmöglich, und Crowle muss gewusst haben, wie es ausgehen würde …«
»Was ist passiert?«, fragte Cassem-meah. »Ist er aufs Deck gefallen?«
Der Steward fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Nein. Der Wind hat ihn weggerissen – hat ihn fortgetragen wie einen Drachen.«
Die Laskaren wechselten bedeutsame Blicke, und Simba Cader schüttelte fassungslos den Kopf: »Wir haben nichts Gutes zu erwarten, wenn wir auf diesem Schiff bleiben. Ich spür’s in meinen Knochen.«
»Wir könnten uns absetzen«, sagte Raju. »Das Schiff kommt morgen ins Trockendock. Wenn es zurückkommt, könnten wir über alle Berge sein.«
Jetzt griff Serang Ali ein. Mit leiser, aber gebieterischer Stimme sagte er. »Nein, wenn wir davonlaufen, werden sie Zikri Malum die Schuld geben. Er ist schon lange bei uns. Schaut ihn euch an: Jeder sieht, dass er auf dem Weg nach oben ist. Kein anderer Malum hat jemals Brot und Salz mit uns geteilt. Es kann uns nur nützen, wenn wir ihm die Treue halten. Eine Zeit lang werden wir es vielleicht schwer haben, aber auf lange Sicht ist es zu unserem Besten.«
Der Serang spürte, dass die anderen zweifelten, und blickte in die Runde, als suchte er jemandem, der ihn unterstützen würde.
Jodu reagierte als Erster. »Zikri Malum hat mir geholfen«, sagte er, »und ich stehe in seiner Schuld. Ich bleibe, und wenn ich der Einzige bin.«
Nun sagten auch viele andere, dass sie denselben Kurs steuern würden, aber Jodu wusste, dass er derjenige war, der das
Ruder herumgeworfen hatte, und Serang Ali nickte ihm anerkennend zu.
Da wusste Jodu, dass er keine Flussratte mehr war. Er war jetzt ein richtiger Laskare und hatte seinen festen Platz in der Mannschaft.
ELFTES KAPITEL
D ie Auswanderer waren erst wenige Tage auf dem Fluss, als der Monsun das Wasser aufwühlte und wütende Schauer über sie ergoss. Sie begrüßten den Regen mit Rufen der Dankbarkeit, denn die Tage davor waren glühend heiß gewesen, zumal im überfüllten Laderaum des Schiffes. Als nun kräftige Winde das einzige ausgefranste Segel blähten, kam der plumpe Palvar schneller voran, obwohl er ständig zwischen den Sandbänken kreuzen musste. Wenn der Wind sich legte und die Güsse versiegten, wurden die zwanzig langen Riemen eingesetzt, und die Besatzung wurde durch die Auswanderer ergänzt. Die Ruderer wurden stündlich abgelöst, und die Aufseher achteten darauf, dass jeder der Männer an die Reihe kam. Während der Fahrt durften sich nur Ruderer, Besatzung und Aufseher an Deck aufhalten, alle anderen hatten im Laderaum zu bleiben, in dem die Auswanderer untergebracht waren.
Der Laderaum nahm die ganze Länge des Schiffes ein und wies keinerlei Unterteilungen auf – eine Art schwimmender Lagerschuppen mit so niedriger Decke, dass sich ein erwachsener Mann darin nicht aufrichten konnte, ohne sich den Kopf anzustoßen. Die Fenster, von denen es mehrere gab, wurden aus Angst vor Dieben, Thags oder Flussbanditen meist geschlossen gehalten, nach Regenfällen fast ständig, sodass kaum Licht hereinkam, selbst wenn sich die Wolken verzogen.
Als Diti zum ersten Mal einen Blick in den Laderaum geworfen hatte, war es ihr vorgekommen, als stünde sie im Begriff, in einen Brunnen zu fallen. Alles, was sie durch den Schleier ihres ghūnghat hindurch sah, war das Weiße in einer großen Zahl von Augenpaaren, die ins einfallende Licht aufblinzelten. Langsam und vorsichtig stieg sie den Niedergang hinab und achtete darauf, dass ihr Gesicht verschleiert blieb. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie, dass sie sich inmitten einer dicht gedrängten Menge von einigen Dutzend Männern befand. Einige von ihnen kauerten am Boden, andere lagen zusammenngerollt auf Matten, wieder andere saßen an die Bordwand gelehnt. Ditis ghūnghat bot wenig Schutz vor dem Ansturm so vieler neugieriger Blicke, und sie flüchtete sich hinter Kalua.
Die Frauenabteilung des Laderaums lag hinter einem Vorhang ganz vorn im Bug. Kalua ging voraus und bahnte Diti einen Weg zwischen den Männern hindurch. Vorn angelangt, blieb Diti abrupt stehen, und ihre Hand zitterte, als sie nach dem Vorhang griff. »Geh nicht weit weg«, flüsterte sie Kalua beunruhigt ins Ohr. »Bleib in der Nähe – wer weiß, was das für
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