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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Frauen sind.«
    »Schon gut, keine Sorge, ich bin da«, sagte er und schob sie hinein.
    Diti hatte erwartet, dass die Frauenabteilung genauso voll sein würde wie die der Männer, doch als sie durch den Vorhang trat, fand sie nur ein halbes Dutzend verschleierte Gestalten vor. Einige von ihnen lagen auf den Planken, standen bei Ditis Eintreten aber auf, um ihr Platz zu machen. Sie kauerte sich nieder und achtete darauf, dass ihr Gesicht bedeckt blieb. Es folgte ein gegenseitiges Taxieren, das jedoch, da alle kauerten und alle Gesichter bedeckt waren, so befangen und ergebnislos verlief wie die Begutachtung einer Braut
durch die Nachbarn des Bräutigams. Anfangs sprach niemand, doch dann ließ eine plötzliche Bö das Schiff schwanken, und die Frauen taumelten und stürzten übereinander. Im allgemeinen Ächzen und Kichern glitt Ditis ghūnghat herab, und als sie sich wieder aufrichtete, traf ihr Blick auf eine Frau, aus deren breitem Mund ein einzelner Zahn hervorstand wie ein schiefer Grabstein. Sie hieß Hiru, wie Diti später erfuhr, und neigte zu Phasen geistiger Abwesenheit, in denen sie stundenlang mit leerem Blick auf ihre Fingernägel starrte. Diti merkte bald, dass Hiru die Harmloseste unter den Frauen war, bei dieser ersten Begegnung aber brachte ihre unverblümte Neugier sie nicht wenig aus der Fassung.
    »Wer bist du?«, fragte Hiru. »Wenn du dich nicht vorstellst, wie sollen wir dann wissen, wer du bist?«
    Diti war sich bewusst, dass sie als die Neue zuerst ihren Namen sagen musste, bevor sie dasselbe von den anderen erwarten konnte. Sie wollte sich schon als Kabutri- kī-mā vorstellen, wie man sie seit der Geburt ihrer Tochter genannt hatte, da fiel ihr gerade noch ein, dass sie und Kalua andere Namen benutzen mussten, wenn sie nicht von den Angehörigen ihres Mannes aufgespürt werden wollten. Wie sollte sie also heißen? Als Erstes kam ihr ihr eigentlicher Name in den Sinn, und da ihn nie jemand benutzt hatte, war er so gut wie jeder andere. »Aditi«, sagte sie leise, »ich bin Aditi.«
    Kaum hatte sie es ausgesprochen, da wurde es auch schon Wirklichkeit. Genau das war sie: Aditi, eine Frau, der die Gnade zuteil geworden war, ihr Leben ein zweites Mal zu leben. »Ja«, sagte sie und hob ein wenig die Stimme, damit Kalua sie hören konnte. »Ich bin Aditi, die Frau von Madhu.«
    Die anderen wussten, was es bedeutete, wenn eine verheiratete Frau ihren ursprünglichen Namen benutzte. Hirus
Augen verdüsterten sich mitleidig. Auch sie war einmal Mutter gewesen; eigentlich hieß sie Hiru- kī-mā . Ihr Kind war vor einiger Zeit gestorben, aber durch eine grausame Ironie lebte sein Name in dem der Mutter fort. Sie sann über Ditis Unglück nach und schnalzte traurig mit der Zunge. »Dann ist dein Schoß leer? Keine Kinder?«
    »Nein«, sagte Diti.
    »Fehlgeburten?« Eine dünne, verschlagen blickende Frau mit grauen Strähnen im Haar hatte die Frage gestellt: Sarju, wie Diti später erfahren sollte, die Älteste der Frauen. In ihrem Dorf in der Nähe von Ara war sie Hebamme gewesen, eine dāī , doch nachdem ihr bei der Geburt des Sohnes eines Thakurs ein Fehler unterlaufen war, hatte man sie von Haus und Hof vertrieben. In ihrem Schoß lag ein großes Stoffbündel, um das sich ihre Hände schützend schlossen, als hüte sie einen Schatz.
    An diesem Tag auf dem Palvar fiel Diti nicht gleich eine passende Antwort ein, als die Hebamme ihre Frage wiederholte: »Fehlgeburten? Totgeburten? Wie hast du die Kleinen verloren?«
    Diti schwieg, aber ihr Schweigen war beredt genug, um eine Welle des Mitgefühls auszulösen. »Macht nichts … du bist jung und kräftig … dein Schoß wird sich bald wieder füllen …«
    Unterdessen löste sich eine Gestalt von den anderen und näherte sich Diti zögernd – ein junges Mädchen mit lang bewimperten, vertrauensvollen Augen. Ihr rundes Kinn trug eine Verzierung, die das Oval ihres Gesichts aufs Schönste ergänzte: eine Tätowierung aus drei pfeilförmig angeordneten Punkten.
    »Und deine Kaste?«, fragte das Mädchen neugierig.
    »Ich bin …«

    Wieder stolperte Ditis Zunge über die Antwort, die ihr als erste einfiel. Der Name ihrer Kaste war so eng mit ihr verbunden wie die Erinnerung an das Gesicht ihrer Tochter, jetzt aber schien auch er zu einem vergangenen Leben zu gehören, in dem sie eine andere gewesen war. Zögernd begann sie: »Wir, mein jorā und ich …«
    Die Vorstellung, sich nun von ihrer Verankerung in der Welt zu lösen, benahm Diti den Atem. Sie

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