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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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unterbrach sich und holte tief Luft, bevor sie fortfuhr: » … mein Mann und ich, wir sind Chamaren …«
    Da stieß das Mädchen einen Freudenschrei aus und schlang den Arm um Ditis Taille.
    »Du auch?«, fragte Diti.
    »Nein, ich gehöre zu den Mussahar, aber das macht uns fast zu Schwestern, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte Diti lächelnd, »wir könnten Schwestern sein – aber du bist so jung, da solltest du eher meine Nichte sein.«
    »Genau!«, rief das Mädchen begeistert. »Du kannst meine bhaujī sein – meine Schwägerin.«
    Einige der anderen Frauen ärgerten sich über das Gespräch und begannen, mit dem Mädchen zu schimpfen: »Was soll denn das, Munia? Das spielt doch alles keine Rolle mehr. Sind wir jetzt nicht alle Schwestern?«
    »Ja, das stimmt.« Munia nickte, aber im Schutze ihres Saris drückte sie Diti leicht die Hand, als wollte sie sich eines besonderen, geheimen Bandes zwischen ihnen versichern.

    »Nil Rattan Halder, es ist nun an der Zeit …«
    Kaum hatte Richter Kendalbushe mit seinem Schlusswort begonnen, musste er schon zum Hammer greifen, denn im Gerichtssaal entstand Unruhe, weil er es unterlassen hatte, den Titel des Angeklagten zu nennen. Nachdem die Ordnung
wiederhergestellt war, begann er noch einmal von vorn, den Blick auf Nil geheftet, der unterhalb des Richtertischs auf der Anklagebank saß.
    »Nil Rattan Halder«, wiederholte er, »es ist nun an der Zeit, dieses Verfahren zu Ende zu bringen. Nach gebührender Prüfung aller Beweismittel, die diesem Gericht vorgelegt wurden, haben die Geschworenen Sie für schuldig befunden, und es ist nun meine schmerzliche Pflicht, das vom Gesetz für Urkundenfälschung vorgesehene Urteil über Sie zu verhängen. Sollte Ihnen der Ernst der Lage nicht bewusst sein, möchte ich Sie darüber aufklären, dass Ihr Delikt ein äußerst schweres Verbrechen darstellt und bis vor Kurzem noch als Kapitalverbrechen galt.«
    Der Richter unterbrach sich und sprach Nil nun direkt an: »Ist Ihnen klar, was das bedeutet? Es bedeutet, dass auf Urkundenfälschung der Tod durch Erhängen stand – eine Maßnahme, die in nicht geringem Umfang dazu beigetragen hat, Großbritannien seinen derzeitigen Wohlstand und seine führende Stellung im Welthandel zu sichern. Und wenn ein solches Verbrechen, wie sich gezeigt hat, schon in England schwierig zu bekämpfen ist, so kann man davon ausgehen, dass dies umso mehr in einem Land wie Indien der Fall sein wird, das erst vor so kurzer Zeit den Segnungen der Zivilisation erschlossen wurde.«
    In diesem Augenblick vernahm Nil über dem gedämpften Prasseln eines Monsunschauers die Stimme eines Straßenhändlers, der irgendwo draußen Zuckerwerk verkaufte. »Joynagorer moa …« Beim Klang des fernen Rufes füllte sich Nils Mund mit dem Geschmack von etwas Frischem, rauchig Süßem aus seiner Erinnerung. Wenn man, führte der Richter unterdessen aus, zu Recht sage, Eltern, die ihr Kind nicht züchtigen, verletzten ihre Pflicht als Erziehungsberechtigte, so
ergebe sich daraus eine ganz ähnliche Verpflichtung, die der Allmächtige jenen auferlegt habe, denen die Sorge für das Wohlergehen der Rassen obliege, die noch in den Kinderschuhen der Zivilisation steckten. Verstießen nicht auch jene Nationen, die diesen göttlichen Auftrag erhalten hätten, gegen ihre Pflicht, wenn sie es bei der Bestrafung von Menschen, die nicht imstande seien, ihre Angelegenheiten ordentlich zu regeln, an der nötigen Strenge mangeln ließen?
    »Nun sind jene, die die Last des Regierens auf ihren Schultern tragen, stets in Versuchung, Milde walten zu lassen, also jenem starken väterlichen Gefühl nachzugeben, das Eltern mit ihren Schutzbefohlenen mitleiden lässt. Doch so schmerzlich es auch sein mag: Die Pflicht gebietet uns bisweilen, unsere natürlichen Regungen hintanzustellen, wenn es gilt, Gerechtigkeit zu üben …«
    Von seinem Platz aus sah Nil von Richter Kendalbushe nur die obere Hälfte des Gesichts, das von einer schweren weißen Perücke eingerahmt war. Jedes Mal, wenn der Richter seine Worte mit einem Kopfschütteln unterstrich, stieg eine kleine Staubwolke von den gepuderten Locken auf und hing wie ein Heiligenschein über ihm. Nil wusste um die Bedeutung von Heiligenscheinen, die er auf Kopien italienischer Gemälde gesehen hatte, und einen Moment lang fragte er sich, ob der Effekt beabsichtigt war. Doch da ertönte sein Name, und er unterbrach seine Überlegungen.
    »Nil Rattan Halder«, krächzte der Richter, »es ist

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