Das mohnrote Meer - Roman
werdenden Akzent.
Während der Fahrt durften die Frauen nur zum Mittagessen an Deck, in der übrigen Zeit mussten sie in der Abgeschlossenheit ihrer durch den Vorhang abgeteilten Nische im Bug bleiben. Drei Wochen in diesem kleinen dunklen, stickigen Raum hätten eigentlich eine schier unerträgliche Langeweile bedeuten müssen, aber so war es seltsamerweise ganz und gar nicht: Keine zwei Stunden, keine zwei Tage glichen einander. Die Enge und Nähe, das Dämmerlicht und das Trommeln des Regens draußen schufen eine Atmosphäre großer Vertrautheit unter den Frauen. Da sie Fremde füreinander waren, war alles, was sie sagten, neu und überraschend, und selbst die alltäglichsten Gespräche konnten eine unerwartete
Wendung nehmen. Staunend stellten sie beispielsweise fest, dass die anderen Mango- achār aus Fallobst, ausschließlich aus frisch gepflückten Früchten zubereiteten. Nicht weniger überraschend war es, dass Hiru Asant als Gewürz zugab, Sarju wiederum auf eine so wichtige Zutat wie Kreuzkümmel verzichtete. Jede der Frauen hatte stets ihre eigene Methode praktiziert und geglaubt, es gebe keine andere. Anfangs war es verwirrend, dann lustig und schließlich aufregend festzustellen, dass die Rezepte von Haushalt zu Haushalt, von Familie zu Familie, von Dorf zu Dorf variierten und dass jedes für seine Anhängerin das einzig Wahre war. Das Thema war so fesselnd, dass es die Frauen von Ghoga bis Pirpainti beschäftigte. Und wenn etwas so Belangloses schon so viel Gesprächsstoff lieferte, wie würde es dann erst mit wichtigen Themen wie dem Geld und dem Ehebett sein?
Die Geschichten nahmen kein Ende. Zwei der Frauen, Ratna und Champa, waren Schwestern und mit einem Brüderpaar verheiratet, dessen Land an die Opiumfabrik verpfändet war und sie nicht mehr ernähren konnte. Um nicht zu verhungern, hatten sie beschlossen, sich gemeinsam als Kontraktarbeiter zu verpflichten. Was immer geschehen würde – zumindest würden sie den Trost eines geteilten Schicksals haben. Dukhani reiste ebenfalls mit ihrem Mann; nachdem sie lange unter den Misshandlungen ihrer Schwiegermutter gelitten hatte, empfand sie es als ein Glück, dass er mit ihr zusammen geflüchtet war.
Auch Diti tat sich keinen Zwang an, wenn sie von der Vergangenheit erzählte, denn sie hatte sich bereits in allen Einzelheiten eine Geschichte ausgedacht, in der sie seit ihrem zwölften Lebensjahr Kaluas Frau war und mit ihm und seinem Vieh in seiner Hütte am Straßenrand gelebt hatte. Nach dem Grund für ihre Entscheidung, das Schwarze Wasser zu überqueren,
gefragt, schob sie alles auf den Neid der Ringer von Benares, die ihren Mann nicht besiegen konnten und ihn deshalb aus dem Bezirk vertrieben hatten.
Auf einige der Geschichten kamen sie immer wieder zurück. Was Hiru durchgemacht hatte, wurde so viele Male erzählt, dass es allen vorkam, als hätten sie es selbst erlebt. Es war im vorigen Jahr passiert, zu Beginn der kalten Jahreszeit, während des großen Viehmarkts in Sonepur. Hiru hatte erst vier Wochen zuvor ihr erstes und einziges Kind verloren, und ihr Mann hatte sie davon überzeugt, dass sie, wenn sie je wieder einen Sohn bekommen wolle, während des Markts eine pūjā im Tempel von Hariharnath verrichten müsse.
Hiru wusste natürlich, dass sehr viele Menschen zu dem Viehmarkt kommen würden, aber auf die Massen, die sich auf den Sandflächen Sonepurs versammelt hatten, war sie nicht vorbereitet. Der Staub, den die vielen Füße aufwirbelten, machte die Mittagssonne zum Mond, das Vieh war so zahlreich, dass es schien, als müsste das Flussufer unter seiner Last einbrechen. Hiru und ihr Mann brauchten einen ganzen Tag, um zu dem Tempel zu gelangen, und während sie am Tor auf Einlass warteten, ging plötzlich der Elefant eines Zamindars durch, und die Menge stob auseinander. Hiru und ihr Mann flüchteten in entgegengesetzte Richtungen, und als Hiru merkte, dass sie sich verirrt hatte, verfiel sie in einen ihrer Zustände der Geistesabwesenheit. Stundenlang saß sie im Sand und betrachtete ihre Fingernägel, und als sie sich endlich auf die Suche nach ihrem Mann machte, konnte sie ihn nicht mehr finden. Es war, als würde man in einer Sandlawine ein Reiskorn suchen. Nach zwei Tagen vergeblichen Umherwanderns beschloss sie, in ihr Dorf zurückzukehren. Das war jedoch nicht so einfach, denn es lag sechzig kos entfernt, und der Weg führte durch einen von grausamen Dacoits und mordenden Thags
heimgesuchten Landstrich. Für eine Frau
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