Das mohnrote Meer - Roman
ihren Augen nieder. Nun noch in der Gegend zu bleiben, hätte fast den sicheren Tod für sie bedeutet, und so hatte sie sich aufgemacht, den Palvar des Dafadars zu suchen, wie ihre Brüder es getan hatten.
»Du lieber Himmel, Mädchen, hast du denn nichts als Stroh im Kopf?«, sagte Diti. »Wie konntest du zulassen, dass er dich anfasst …?«
»Ach, das verstehst du nicht«, seufzte Munia. »Ich war verrückt nach ihm! Da würde man einfach alles tun. Wenn so etwas wieder passiert, bin ich genauso hilflos, das weiß ich.«
»Was redest du denn da für einen Unsinn?«, rief Diti. »Wie kannst du so etwas sagen! Nach allem, was du durchgemacht hast, musst du dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert!«
»Nie wieder?« Munias Stimmung veränderte sich so schlagartig, dass Diti schier an ihr verzweifelte. »Würdest du keinen Reis mehr essen«, fragte sie kichernd und hielt sich die Hand vor den Mund, »nur weil du dir mal an einem Stein einen Zahn ausgebissen hast? Wie soll man denn da leben …?«
»Schsch!« Diti war empört. »Sei still, Munia! Überleg doch mal! Wie kannst du nur so leichtsinnig daherreden? Weißt du denn nicht, was passieren würde, wenn die anderen davon erfahren?«
»Wieso sollte ich’s ihnen sagen?« Munia zog ein Gesicht. »Dir hab ich’s auch nur erzählt, weil du meine bhaujī bist. Die anderen erfahren kein Wort davon, die reden sowieso zu viel …«
Tatsächlich kamen die Gespräche unter den Frauen selten zum Erliegen, und wenn es doch einmal geschah, brauchten sie nur die Ohren zu spitzen und zu hören, was die Männer sich auf der anderen Seite des Vorhangs erzählten. Auf diese Weise vernahmen sie die Geschichte des streitsüchtigen Jhugru, dessen Feinde sich seiner entledigt hatten, indem sie ihn im Rausch auf den Palvar verfrachteten; die Geschichte Kallukhans, des Sepoys, der nach Beendigung seines Militärdienstes in sein Dorf zurückgekehrt war, nur um festzustellen, dass er es zu Hause nicht mehr aushielt; die Geschichte Ragus, des Dhobis, der das Wäschewaschen leid war; und die Geschichte Gobins, des Töpfers, der seinen Daumen nicht mehr benutzen konnte.
Manchmal, wenn der Palvar für die Nacht haltmachte, kamen neu Angeworbene an Bord, meist einzeln oder zu zweit, gelegentlich auch in Gruppen von einem Dutzend oder mehr. In Sahibganj, wo der Fluss eine Biegung nach Süden machte, warteten vierzig Männer, Bergbewohner von den Hochebenen Jharkhands. Sie hatten Namen wie Ecka, Turkuk und Nakhu Nack und brachten Geschichten von einem Land mit, das gegen seine neuen Herrscher rebellierte, von Dörfern, die von den Truppen des weißen Mannes niedergebrannt wurden.
Nicht lange danach überquerte der Palvar eine unsichtbare
Grenze und trug sie in ein wasserreiches, im Regen ertrinkendes Land, dessen Bewohner eine unverständliche Sprache sprachen. Wenn das Schiff nun über Nacht haltmachte, verstand man die Menschen an den Ufern nicht mehr, denn sie johlten und spotteten auf Bengali. Die sich verändernde Landschaft steigerte das Unbehagen der Auswanderer noch: Die fruchtbaren, dicht bevölkerten Ebenen gingen in Sümpfe und Marschen über, der Fluss wurde brackig, sodass man nicht mehr daraus trinken konnte, das Wasser stieg und fiel täglich, überspülte die breiten Schlickbänke und legte sie wieder frei. Die Ufer waren von dichter, verschlungener Vegetation bedeckt, die weder aus Büschen noch aus Bäumen bestand, sondern mit stelzenartigen Wurzeln aus dem Flussbett emporzuwachsen schien. Manchmal hörten sie nachts einen Tiger im Wald brüllen, und wenn Krokodile mit dem Schwanz gegen die Bordwand schlugen, erzitterte der Palvar.
Bisher hatten die Auswanderer das Thema des Schwarzen Wassers vermieden – wieso hätten sie sich auch bei künftigen Gefahren aufhalten sollen? Nun aber, in der dampfigen Hitze des Dschungels, kochten ihre Ängste und Befürchtungen über. Der Palvar wurde zur Gerüchteküche. Auf dem Schwarzen Wasser, so flüsterte man sich zu, werde man ihnen Rind- und Schweinefleisch vorsetzen; wer es nicht esse, werde bewusstlos gepeitscht und das Fleisch werde ihm mit Gewalt in den Rachen gestopft. In Marich werde man sie zwingen, zum Christentum überzutreten und allerlei Verbotenes aus dem Meer und dem Dschungel zu essen. Wenn jemand sterbe, werde sein Leichnam wie Dung untergepflügt, denn man sei auf der Insel nicht auf Verbrennungen eingerichtet. Das erschreckendste Gerücht drehte sich um die Frage, warum die Weißen so erpicht auf
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