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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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junge Auswanderer seien statt auf weise, wissende, erfahrene: weil sie es auf ein Öl abgesehen hätten,
das man nur im menschlichen Gehirn finde, das begehrte mi-miāi-kā-tel , das bei jungen Erwachsenen am reichlichsten vorhanden sei. Man gewinne die Substanz, indem man den Opfern kleine Löcher in die Schädeldecke bohre und sie an den Füßen aufhänge; das Öl tropfe dann langsam in einen Topf.
    Dieses Gerücht erschien vielen immer glaubwürdiger, und als Kalkutta in Sicht kam, hob im Laderaum ein großes Wehklagen an. Rückblickend kam es den Auswanderern vor, als hätten sie auf der Fahrt den Ganges hinab ein letztes Mal vom Leben gekostet, ehe ein langsamer, qualvoller Tod einsetzte.

    Am Morgen des Tamasha musste Paulette feststellen, dass ihre Fingernägel über Nacht eine alarmierende Zahl roter Abdrücke in ihrem Gesicht hinterlassen hatten. Der Anblick trieb ihr Tränen in die Augen, und sie war versucht, Mrs. Burnham eine Nachricht zu schicken, sie sei krank und könne nicht aufstehen. Stattdessen aber wies sie die Abdars an, die Wanne im Badezimmer zu füllen. Dieses eine Mal war sie froh, von Mrs. Burnhams cushy-girls Gebrauch machen zu können, und erlaubte ihnen, ihre Arme zu kneten und ihr die Haare zu waschen. Aber noch war das Problem zu lösen, was sie anziehen sollte, und als sie es in Angriff nahm, war sie von Neuem den Tränen nahe. Sie hatte sich über diese Frage noch nie Gedanken gemacht und sah auch nicht ein, weshalb sie es jetzt tun sollte. Was spielte es schon für eine Rolle, dass Mr. Reid kommen würde? Es war ja wohl kaum zu erwarten, dass er überhaupt Notiz von ihr nahm. Doch als sie eins von Mrs. Burnhams abgelegten Kleidern anprobierte, ertappte sie sich dabei, dass sie die reich verzierte, aber streng wirkende Robe mit ungewohnt kritischem Blick musterte. Die Vorstellung, wie ein Murmeltier in Trauer zu dem Tamasha hinunterzugehen, war ihr unerträglich. Aber was sollte sie sonst anziehen? Ein
neues Kleid zu kaufen, lag jenseits ihrer Möglichkeiten, nicht nur weil sie kein Geld hatte, sondern auch, weil sie ihrem Geschmack, was Memsahib-Moden anbelangte, nicht trauen konnte.
    Da sie nicht wusste, an wen sie sich sonst wenden sollte, fragte sie Annabel um Rat, die in manchen Dingen klüger war, als es ihrem Alter entsprach. Und Annabel war ihr auch wirklich eine große Hilfe, denn sie war es, die auf den Ausweg verfiel, den Pelerinenkragen des schwarzen Seidenkleides mit einer ihrer bestickten dupattīs aufzuhellen. Aber der Beistand des Mädchens hatte seinen Preis. »Ach du lieber Himmel, Paggli, du flatterst ja herum wie ein Schmetterling!«, sagte sie. »Du zerbrichst dir doch sonst nicht den Kopf über deinen Jamma. Ist da vielleicht ein Chakara im Spiel?«
    »Wo denkst du hin«, antwortete Paulette schnell. »Natürlich nicht! Ich meine nur, ich sollte deine Familie bei einem so wichtigen Evenement nicht enttäuschen.«
    Aber Annabel fiel nicht darauf herein. »Du willst dir jemanden angeln, stimmt’s?«, sagte sie mit einem anzüglichen Lächeln. »Wer ist es? Kenne ich ihn?«
    »Annabel!«, rief Paulette. »Kein Gedanke!«
    Doch Annabel war nicht zum Schweigen zu bringen, und als sie Paulette später in vollem Staat die Treppe herunterkommen sah, stieß sie einen bewundernden Schrei aus: »Tipptopp, Paulette – shabash! Die werden dich heute Abend mit Chumas überschütten!«
    »Also wirklich, Annabel, du übertreibst maßlos!« Paulette raffte ihre Röcke und stürzte davon, froh, dass außer einem gerade vorbeigehenden Chobdar, zwei eiligen Farrashis, drei mashaks schleppenden Bhishtis, zwei Meißel schwingenden Mistris und einem Trupp Blumen tragender Gärtner niemand in der Nähe war. Hätte Mrs. Burnham sie gehört, sie hätte sich
schrecklich geschämt, aber zum Glück war die Bibi noch mit ihrer Toilette beschäftigt.
    Vorne im Haus der Burnhams, an den Portikus anschließend, lag der Empfangsraum, den Mrs. Burnham wegen der vielen goldgerahmten venezianischen Spiegel an den Wänden scherzhaft ihren »Spiegelsaal« nannte. Hier wurden gewöhnlich die Gäste empfangen und gebeten, Platz zu nehmen, bevor man sich zu Tisch begab. Es war ein prächtiger Raum, aber keineswegs der größte im Haus. Wenn alle Lüster und Wandleuchter brannten, gab es darin kaum noch dunkle oder stille Winkel – ein misslicher Umstand für Paulette, deren Hauptstrategie bei den Bara Khanas der Burnhams darin bestand, sich möglichst unsichtbar zu machen. Im Spiegelsaal hatte sie

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