Das mohnrote Meer - Roman
allein bedeutete eine solche Reise, ihre Ermordung oder noch Schlimmeres geradezu herauszufordern. Sie ging deshalb nur bis Revelganj und wollte dort warten, bis sie Verwandte oder Bekannte traf, die bereit waren, sie mitzunehmen. Mehrere Monate vergingen, in denen sie sich als Bettlerin, Wäscherin und Arbeiterin in einer Salpetermine über Wasser hielt. Dann sah sie eines Tages einen Nachbarn aus ihrem Dorf. Erfreut lief sie zu ihm, doch als er sie erkannte, flüchtete er, als hätte er ein Gespenst gesehen. Endlich gelang es ihr, ihn einzuholen, und er erzählte ihr, dass ihr Mann sie für tot erklärt und wieder geheiratet habe; seine neue Frau sei bereits schwanger.
Anfangs war Hiru entschlossen, ihren Platz in ihrem Haus zurückzufordern, doch dann begann sie sich Fragen zu stellen. Warum hatte ihr Mann sie überhaupt nach Sonepur gebracht? Hatte er vielleicht von Anfang an vorgehabt, sie loszuwerden, und die erstbeste Gelegenheit genutzt? Er hatte sie so oft geschlagen und beschimpft – was würde er tun, wenn sie zu ihm zurückkehrte?
Wie der Zufall es wollte, machte gerade, als sie noch hin und her überlegte, ein Palvar voller Auswanderer am Ghat fest …
Munias Geschichte war die simpelste von allen. Auf die Frage, warum sie auf dem Palvar sei, sagte sie, sie wolle zu ihren beiden Brüdern, die vor einigen Jahren nach Marich gegangen seien. Und als die anderen wissen wollten, warum sie nicht verheiratet sei, erklärte sie, es habe niemanden gegeben, der einen Mann für sie hätte suchen können; ihre Eltern seien vor Kurzem beide gestorben. Diti ahnte, dass mehr hinter der Geschichte steckte, aber sie wollte nicht neugierig sein und wusste auch, dass Munia von sich aus reden würde, wenn die Zeit dafür reif war. War sie, Diti, nicht die Ersatz-Bhaujī des
Mädchens, die Schwägerin, von der alle träumten, Freundin, Beschützerin und Vertraute? War sie es nicht, zu der Munia stets kam, wenn ein Mann sie allzu dreist neckte oder zu einem Stelldichein zu überreden suchte? Munia wusste, dass Diti ihn in seine Schranken weisen würde, indem sie Kalua alles erzählte: »Schau dir den schmutzigen luchchā da drüben an, wie er Munia Augen macht. Er glaubt, er kann sie necken und provozieren und alles Mögliche anstellen, nur weil er jung ist und gut aussieht. Geh, wasch ihm den Kopf, sag ihm, wenn er sich untersteht, das noch mal zu machen, dann findet er seine Leber auf der falschen Bauchseite wieder.«
Dann stapfte Kalua hinüber und fragte auf seine höfliche Art: »Sag ehrlich: Hast du das Mädchen belästigt? Kannst du mir sagen, warum?«
Damit war die Angelegenheit für gewöhnlich erledigt, denn eine solche Frage von einem solchen Hünen war nicht nach jedermanns Geschmack.
Als es wieder einmal so weit war, flüsterte Munia Diti ihre Geschichte ins Ohr. Sie handelte von einem Mann aus Ghazipur, einem Agenten der Opiumfabrik. Bei einem Besuch in ihrem Dorf hatte er sie bei der Erntearbeit gesehen und war von da an immer wieder dort vorbeigegangen. Er hatte ihr kleine Geschenke gemacht und ihr gesagt, wie vernarrt er in sie sei – und sie, arglos und offenherzig, wie sie war, hatte ihm jedes Wort geglaubt. Sie hatten angefangen, sich bei Festen und Hochzeitsfeiern, wenn das ganze Dorf abgelenkt war, in den Mohnfeldern zu treffen. Die Heimlichkeit, die Romantik und auch die Liebkosungen hatten ihr gefallen, bis er sie eines Nachts mit Gewalt nahm. Danach war sie ihm aus Angst vor Entdeckung weiter zu Willen gewesen. Als sie schwanger wurde, glaubte sie, ihre Familie würde sie verstoßen oder töten lassen, doch wunderbarerweise standen ihre Eltern trotz
der Ächtung durch die Gemeinschaft zu ihr. Sie lebten jedoch in dürftigsten Verhältnissen und waren so arm, dass sie zwei ihrer Söhne als Kontraktarbeiter verkaufen mussten, um überhaupt über die Runden zu kommen. Als Munias Kind anderthalb Jahre alt war, beschlossen sie, mit ihm zu dem Agenten zu gehen, nicht um ihm zu drohen oder ihn zu erpressen, sondern nur um ihm klarzumachen, dass sie seinetwegen nun ein Maul mehr zu stopfen hatten. Er hörte sie geduldig an und schickte sie mit dem Versprechen zurück, ihnen jede erforderliche Unterstützung zukommen zu lassen. Einige Tage später schlichen sich im Dunkel der Nacht mehrere Männer zu ihrer Behausung und setzten sie in Brand. Zufällig hatte Munia gerade ihre Regel und schlief getrennt von den anderen im Freien. Die Hütte mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Kind darin brannte vor
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