Das mohnrote Meer - Roman
Gerechtigkeit dienlich ist. Aus unserer Sicht spricht jedoch nicht das Geringste für das Argument, Angehörige hoher Kasten sollten weniger streng bestraft werden als jeder andere; ein solches Prinzip ist im englischen Recht nie anerkannt worden und wird auch nie anerkannt werden, denn das englische Recht beruht auf dem Grundsatz, dass vor dem Gesetz alle gleich sind …«
Diese Worte erschienen Nil so absurd, dass er den Kopf senken musste, um ein Lächeln zu verbergen. Wenn die Tatsache, dass er hier auf der Anklagebank saß, irgendetwas bewies, dann gerade das Gegenteil des Prinzips der Gleichheit, das der Richter so eindringlich beschwor. Im Verlauf seines Prozesses war es Nil geradezu lachhaft deutlich geworden, dass in diesem Rechtssystem die Engländer – Mr. Burnham und seinesgleichen – dem Recht, das für andere galt, selbst nicht unterstanden. Sie waren zu den neuen Brahmanen der Welt geworden.
Doch nun vertiefte sich die Stille im Saal plötzlich, und Nil schaute auf. Der Richter sah ihn nun wieder direkt an. »Nil Rattan Halder, in den Petitionen zu Ihren Gunsten werden wir dringend um ein mildes Urteil gebeten, mit der Begründung, Sie seien ein Mensch von großem Reichtum, Ihre junge, unschuldige Familie werde sonst ihre Kastenzugehörigkeit verlieren und von ihresgleichen gemieden und geächtet werden. Was Letzteres anbelangt, so hege ich eine zu große Hochachtung vor dem Charakter der Eingeborenen, als dass ich glauben
könnte, Ihre Sippe ließe sich von einem so abwegigen Prinzip leiten. Aber wie dem auch sei: Es kann nicht angehen, dass eine solche Überlegung unsere Auslegung des Gesetzes beeinflusst. Was Ihren Reichtum und Ihre gesellschaftliche Stellung anbelangt, so machen sie Ihr Delikt in unseren Augen nur umso schwerwiegender. Mir stellt sich somit eine klare Alternative: Entweder ich lasse dem Gesetz unparteiisch seinen Lauf, oder ich führe den Rechtsgrundsatz ein, dass es in Indien Personen gibt, die ungestraft Verbrechen begehen dürfen.«
Die gibt es, dachte Nil. Sie sind einer von ihnen, ich nicht.
»Da ich nicht die Absicht habe, Ihre Bedrängnis noch zu vermehren«, erklärte der Richter weiter, »sei lediglich gesagt, dass keiner der Anträge in Ihrer Sache auch nur einen einzigen stichhaltigen Grund nennt, den Lauf des Gesetzes zu ändern. Die Urteile in ähnlichen Fällen aus jüngster Zeit, sowohl in England als auch hier, haben die Urkundenfälschung als ein schweres Verbrechen bestätigt, bei dem die Vermögensbeschlagnahme als Strafe nicht ausreicht; vielmehr ist es zusätzlich durch eine Verbringung nach Übersee auf gerichtlich festzusetzende Dauer zu ahnden. Entsprechend den genannten Fällen verkündet dieses Gericht sein Urteil: Ihr gesamter Besitz wird beschlagnahmt und veräußert, um aus dem Erlös Ihre Schulden zu begleichen. Sie selbst werden für einen Zeitraum von nicht weniger als sieben Jahren in die Strafkolonie auf Mauritius verbracht. So verkündet und niedergelegt an diesem zwanzigsten Tag des Monats Juli im Jahr des Herrn 1838 …«
Kaluas außerordentliche Körperkräfte machten ihn bald zum begehrtesten Ruderer auf dem Palvar, und er durfte als Einziger unter den Auswanderern an die Riemen, wann immer das Wetter es erlaubte – ein hochwillkommenes Privileg, denn die Anstrengung des Ruderns wurde durch die Möglichkeit,
sich an Deck aufzuhalten, mehr als wettgemacht: So konnte er die vom Regen erfrischte Landschaft vorüberziehen sehen. Die Namen der Orte an den Ufern – Patna, Bakhtiyapur, Teghra – beeindruckten ihn tief, und er machte sich ein Spiel daraus, die Zahl der Ruderschläge von einem bis zum nächsten zu berechnen. Manchmal, wenn eine berühmte Stadt in Sicht kam, ging er zu Diti hinunter und rief: »Barauni! Munger!« Die Frauenabteilung des Laderaums konnte mit mehr als einem gerechten Anteil an Fenstern aufwarten: Sie hatte deren zwei, auf jeder Seite des Bugs eine. Bei Kaluas Ankündigungen öffneten Diti und die anderen kurz die Läden, um sich den näherrückenden Ort anzusehen.
Bei Sonnenuntergang machte der Palvar für die Nacht halt. Waren die Ufer gefährlich menschenleer, ankerte man in der Flussmitte, in der Nähe von Städten wie Patna, Munger oder Bhagalpur wurde das Schiff direkt am Ufer vertäut. Am schönsten war es, wenn sie an den Ghats einer belebten Stadt oder eines Flusshafens anlegten. Dann saßen die Frauen in den Regenpausen an Deck, beobachteten die Menschen und lachten über deren immer fremdartiger
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