Das mohnrote Meer - Roman
bot, überraschte selbst die Welterfahrensten unter ihnen. Die Ghats, die Gebäude und Werften an den Ufern des Hooghly waren so zahlreich, so voll und so groß, dass die Auswanderer in ein gleichermaßen ehrfürchtiges und entsetztes Schweigen
verfielen. Wie konnte man in solcher Enge, solchem Schmutz leben, an einem Ort, wo weit und breit keine Felder und keinerlei Grün zu sehen waren? Handelte es sich bei diesen Menschen vielleicht um eine andere Art von Lebewesen?
Je näher sie den Docks kamen, desto dichter wurde der Verkehr auf dem Fluss, und bald fand sich der Palvar in einem Wald von Masten, Spieren und Segeln wieder. Er wirkte armselig in dieser Gesellschaft, doch in Diti keimte plötzlich Zuneigung zu ihrem Schiff auf; inmitten all des Unbekannten, Furchterregenden erschien es ihr wie ein Hort der Geborgenheit. Wie die anderen hatte sie oft das Ende dieses Teils der Reise herbeigesehnt; nun aber lauschte sie in wachsender Furcht dem Dafadar und den Sardars, die ihre Vorbereitungen für die Ausschiffung der Auswanderer trafen.
Schweigend suchten die Frauen ihre Habseligkeiten zusammen und krochen aus ihrer Nische hervor. Ratna, Champa und Dukhani eilten zu ihren Männern; Diti aber, die sich zur Beschützerin der allein reisenden Frauen gemacht hatte, versammelte Munia, Sarju und Hiru um sich und nahm sie mit zu Kalua. Bald kamen die Sardars herunter, um den Auswanderern mitzuteilen, dass sie von hier aus in Gruppen zu jeweils zehn bis zwölf mit gemieteten Ruderbooten zu ihrem Lager gebracht würden. Die Frauen wurden als Erste zum Umsteigen aufgefordert. Sie gingen an Deck und sahen, dass neben dem Palvar ein Ruderboot auf sie wartete.
»Aber wie kommen wir da runter?«, fragte Sarju beunruhigt, denn das Boot lag weit unterhalb des Decks tief im Wasser.
»Ja, wie?«, rief Munia. »Von so hoch oben kann ich nicht springen!«
»Von so hoch oben!« Ein spöttisches Lachen kam aus dem
Boot herauf. »Das kann doch jedes Kind. Kommt nur, kommt nur – ihr braucht keine Angst zu haben …«
Es war der Bootsführer; er sprach ein schnelles quecksilbriges, verstädtertes Hindustani, das Diti gerade noch verstand. Er war ein blutjunger Bursche. Um sein dichtes, dunkles, von der Sonne kupferfarben getöntes Haar hatte er ein Tuch geknotet. Er lachte mit zurückgeworfenem Kopf, und seine frechen, strahlenden Augen waren so scharf, als könnten sie die Schleier der Frauen durchdringen.
»Was für ein eitler Fatzke«, flüsterte Munia Diti hinter ihrem ghūnghat hervor zu.
»Schau ihn erst gar nicht an«, warnte Diti. »Das ist so ein Schäker aus der Stadt, ein richtiger bānkā- Bihari.«
Doch der Bootsführer winkte sie, immer noch lachend, heran. »Worauf wartet ihr noch? Springt schon! Muss ich vielleicht ein Netz spannen und euch wie Fische fangen?«
Munia kicherte, und auch Diti musste lachen. Der Junge hatte etwas Gewinnendes, das musste man ihm lassen. Vielleicht waren es seine strahlenden Augen oder auch sein unbekümmerter, verschmitzter Ausdruck – oder war es die komische kleine Narbe an seiner Stirn, mit der er aussah, als hätte er nicht zwei, sondern drei Augenbrauen?
»He!«, kicherte Munia. »Und wenn wir springen, und du lässt uns fallen? Was dann?«
»Wieso sollte ich so ein kleines Ding wie dich fallen lassen?«, gab der Bootsführer zwinkernd zurück. »Ich hab schon viel größere Fische gefangen. Spring einfach, dann wirst du schon sehen …«
Jetzt war es genug, fand Diti. Als der ranghöchsten verheirateten Frau der Gruppe fiel es ihr zu, auf Sitte und Anstand zu achten. Sie drehte sich zu Kalua um und schimpfte: »Was ist los mit euch? Warum steigt ihr nicht in das Boot und
helft uns hinunter? Wollt ihr, dass dieser Wüstling uns anfasst?«
Ernüchtert stiegen Kalua und die anderen Männer in das Boot und halfen den Frauen einer nach der anderen hinab. Munia wartete, bis nur noch ein Händepaar frei war – das des Bootsführers, und als sie sprang, fing er sie mit einem Griff um die Taille geschickt auf und setzte sie sanft im Boot ab. Dabei glitt jedoch – ob versehentlich oder absichtlich, hätte Diti nicht zu sagen gewusst – ihr ghūnghat herab, und für einen langen Augenblick gab es keine Barriere mehr zwischen ihrem koketten Lächeln und seinen hungrigen Augen.
Wie lange das Mädchen sich diese Freiheit noch erlaubt hätte, wusste Diti nicht, und sie war auch nicht gesonnen, es herauszufinden. »Munia!«, tadelte sie scharf. »Wie führst du dich denn auf? Hast du
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