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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Paulette. »Das ist doch eher wie ein coup de foudre , also – wie sagt man in Ihrer Sprache – wie wenn man vom Blitz gestoßen wird.«
    »Vom Blitz gestoßen!« Mrs. Burnham hielt sich entsetzt die Ohren zu. »Paggli! Du musst wirklich achtgeben, was du sagst!«
    »Aber stimmt es denn nicht, Madame?«
    »Davon weiß ich nichts.« Ein Verdacht regte sich in Mrs. Burnham. Sie stützte das Kinn in die Hand und bedachte Paulette mit einem langen, forschenden Blick. »Sag einmal, liebe Paggli – da gibt es doch nicht etwa einen anderen?«
    Paulette geriet in Panik; sie hatte zu viel preisgegeben. Leugnen war jedoch zwecklos, das wusste sie, denn einer so gewitzten Person wie Mrs. Burnham eine glatte Lüge zu präsentieren, würde die Gefahr der Entdeckung nur erhöhen. So ließ sie stumm den Kopf hängen und senkte ihre überfließenden Augen.
    »Hab ich’s doch gewusst!«, rief die Bibi triumphierend. »Es ist dieser Amerikaner, nicht wahr, dieser Hezekiah oder Zebediah oder wie er heißt. Ja, bist du denn von Sinnen, Paggli? Das würde doch niemals gut gehen! Du bist zu arm, um dich an einen Seemann wegzuwerfen, da kann er noch so hübsch und charmant sein. Ein junger Seemann – das ist ja das schlimmste Kismet, dass eine Frau treffen kann, schlimmer noch als ein Soldat! Wenn man sie braucht, sind sie nicht da,
sie besitzen keinen roten Heller, und sie sind tot, noch ehe ihre Kinder aus den Windeln heraus sind. Mit einem Classy als Ehemann müsstest du dich als Dienstmagd verdingen, nur um über die Runden zu kommen! Ich kann mir nicht vorstellen, meine Liebe, dass es dir gefallen würde, anderer Leute Kabob wegzumachen und ihre Briefkästen zu leeren. Nein, meine Liebe, das kann ich nicht zulassen. Ich will nichts davon hören …«
    Plötzlich verstärkte sich ihr Verdacht, sie schlug die Hände vor den Mund und rief: »O Gott! Liebe, liebe Paggli, sag mir – du hast doch nicht … du hast doch nicht etwa … Nein! Sag, dass es nicht wahr ist!«
    »Was, Madame?«, fragte Paulette verwirrt.
    Die Bibi senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Du hast dich doch nicht etwa kompromittiert, Paggli, oder? Nein. Das kann ich nicht glauben.«
    »Kompromittiert, Madame?« Paulette hob stolz das Kinn und straffte die Schultern. »Ich glaube, Madame, in Herzensangelegenheiten kann es keine Halbheiten und Kompromisse geben. Verlangt die Liebe nicht, dass wir alles geben?«
    »Paggli …!« Mrs. Burnham schnappte nach Luft und fächelte sich mit einem Kissen. »Meine Liebe! Ogottogott! Sag es mir, liebe Paggli: Du brauchst mich nicht zu schonen.« Sie schluckte schwach und griff sich an den wogenden Busen. »Ist da … nein, das kann nicht sein! … Nein … O Gott! …«
    »Ja, Madame?«
    »Paggli, sag mir die Wahrheit, ich beschwöre dich – da ist doch nicht etwa eine Roti im Ofen?«
    »Nun ja, Madame …«
    Paulette wunderte sich ein wenig, dass Mrs. Burnham so viel Wirbel um eine Sache machte, von der sie sonst so leichthin sprach, aber sie war auch froh, dass das Gespräch diese
Wendung genommen hatte, denn damit bot sich die Gelegenheit zur Flucht. Sie fasste sich an den Bauch und stöhnte: »Sie haben vollkommen recht, Madame, ich habe heute tatsächlich so ein Völlegefühl.«
    »Liebe, liebe Paggli!« Die Bibi tupfte sich die überströmenden Augen und umarmte Paulette mitleidig. »Natürlich bist du außer dir! Diese schurkischen Seeleute! Bei all ihrem Adli-Badli sollte man meinen, dass sie die Mädels in Ruhe lassen! Meine Lippen sind natürlich versiegelt, von mir erfährt keiner etwas. Aber Paggli, meine Liebe, begreifst du nicht? Du musst Mr. Kendalbushe sofort heiraten, um deiner selbst willen! Da ist keine Zeit zu verlieren!«
    »Nein, Madame, wirklich nicht!« Als Mrs. Burnham zu ihrem Laudanum griff, sprang Paulette auf und lief zur Tür. »Verzeihen Sie, Madame, ich muss gehen. Der Thron wartet nicht.«

    Das Wort »Kalkutta« war kaum ausgesprochen, da flogen im Palvar der Girmitiyas auch schon alle Fenster auf. In der überfüllten Männerabteilung setzte ein großes Drängeln und Schieben ein, und nicht jeder fand einen guten Aussichtspunkt. Die Frauen waren besser dran; aus ihren beiden Fenstern konnten alle das Ufer sehen, als sie sich der Stadt näherten.
    Auf der Fahrt flussabwärts hatte der Palvar bei so vielen großen, dicht bevölkerten Städten – Patna, Bhagalpur, Munger – haltgemacht, dass ihr Anblick für die Girmitiyas nichts Neues mehr war. Doch das Schauspiel, das sich ihnen jetzt

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