Das mohnrote Meer - Roman
denn gar kein Schamgefühl? Augenblicklich verschleierst du dich wieder!«
Gehorsam zog Munia sich ihren Sari über den Kopf und nahm neben Diti Platz. Doch trotz ihrer sittsamen Haltung erkannte Diti an der Neigung ihres Kopfes, dass ihr Blick noch immer den des Bootsführers festhielt.
»Schluss jetzt! Benimm dich endlich!« Sie stieß das Mädchen in die Seite. »Was sollen denn die Leute denken?«
»Ich höre doch nur zu, was er sagt«, protestierte Munia. »Ist das vielleicht ein Verbrechen?«
Diti musste zugeben, dass es nicht leicht war, den Bootsführer zu ignorieren, denn er redete fast ununterbrochen und zeigte ihnen, was es an den Ufern zu sehen gab. »Das da links sind die Opiumspeicher … Da kann man sich schön verlieren, was? … Glückseligkeit ohne Ende findet man da …«
Doch sogar während seines stetigen Geplappers drehte er sich immer wieder um, und Diti wusste genau, dass seine und Munias Blicke sich trafen. Entrüstet wandte sie sich an die
Männer. »Jetzt hört euch das an, wie der Junge redet! Wollt ihr ihm das etwa durchgehen lassen? Tut doch was! Zeigt ihm, dass ihr auch Mumm in den Knochen habt!«
Aber es half nichts, denn auch die Männer hörten offenen Mundes zu. Sie hatten zwar schon von den schnell redenden harāmzādās aus der Stadt gehört, aber leibhaftig gesehen hatten sie noch keinen. Sie waren fasziniert; hätten sie ihm Vorhaltungen gemacht, das wussten sie nur zu gut, hätte der Kerl sich nur über ihre bäuerliche Sprache lustig gemacht.
Das Boot bog vom Fluss in einen kleinen Seitenarm ein, und nach einer Weile zeigte der Bootsführer auf einen in der Ferne aufragenden Komplex düsterer Mauern. »Das Gefängnis von Alipur«, erklärte er ernst. »Der fürchterlichste Kerker im ganzen Land … das Grauen dort, die Folter – wenn ihr wüsstet! … Aber ihr werdet’s ja bald wissen …«
Die Auswanderer mussten an die vielen Gerüchte denken, die sie gehört hatten, und wechselten ängstliche Blicke. Einer von ihnen fragte: »Wieso fahren wir zu dem Gefängnis?«
»Hat man’s euch nicht gesagt?«, fragte der Bootsführer leichthin. »Dort soll ich euch hinbringen. Da werden aus dem Wachs in eurem Gehirn Kerzen gemacht …«
Mehrere Auswanderer schnappten erschrocken nach Luft, worauf der Bootsführer in ein gackerndes Gelächter ausbrach. »Nein, nein, war ein Scherz … Nein, da fahren wir nicht hin … Ich bringe euch zu dem Verbrennungsplatz da drüben … Seht ihr die Flammen und den Rauch? … Da werdet ihr gebraten … Bei lebendigem Leibe …«
Wieder wurde nach Luft geschnappt, was den Bootsführer noch mehr belustigte. Bis aufs Blut gereizt, rief Champas Mann schließlich: »Was gibt’s da zu lachen? Du hältst dich wohl für was Besseres! Willst du Prügel?«
»Von einem Landei wie dir?« Der Bootsführer lachte noch
lauter. »Ein Schlag mit meinem Ruder, du Bauerntrottel, und du landest im Wasser …«
Fast wäre es zu einer Keilerei gekommen, da legte das Boot an einer Mole an und wurde vertäut. Dahinter dehnte sich ein frisch gerodeter Küstenstreifen, noch mit den Stümpfen der gefällten Bäume bedeckt. In der Mitte der Lichtung standen drei große strohgedeckte Baracken im Kreis, und ein Stück entfernt war neben einem Brunnen ein schlichter kleiner Schrein zu sehen, von einem Mast mit einem roten Wimpel überragt.
»Da sind wir«, sagte der Bootsführer, »hier steigt ihr aus: das Durchgangslager für Girmitiyas, alles neu gebaut und fertig hergerichtet, genau rechtzeitig für die Ankunft der Schafe …«
»Was? Das ist es? Bist du sicher?«
»Ja, das ist es …«
Es dauerte eine Weile, bis sich jemand regte. Die Auswanderer konnten kaum glauben, dass das Lager wirklich für sie gedacht war, so friedlich wirkte es.
»Jetzt aber raus hier … Glaubt ihr, ich hab nichts anderes zu tun?«
Beim Aussteigen schob Diti Munia wohlweislich vor sich her, was den Bootsführer aber nicht hinderte, beide strahlend anzulächeln und zu sagen: »Bitte vergebt mir, wenn ich euch beleidigt habe, meine Damen … Nichts für ungut … Azad mein Name … Azad, der Laskare …«
Diti merkte, dass Munia sich gern noch länger an der Mole aufgehalten hätte, und zog sie schnell fort. Sie versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf das Lager zu lenken: »Schau, Munia, das ist es! Unser letzter Rastplatz, bevor wir auf das Schwarze Wasser hinausgestoßen werden …«
Ehe sie zu den anderen hineinging, wollte Diti dem Schrein einen Besuch abstatten. »Komm«, sagte
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