Das mohnrote Meer - Roman
du vielleicht doch eine Entmastung.«
Selbst mit gefesselten Gelenken hatte Ah Fatt eine so unglaublich sichere Hand, dass Nil aus dem Staunen nicht herauskam. Dass er Fliegen mit Daumen und Zeigefinger aus der Luft fangen konnte, war schon verwunderlich genug. Dass ihm das aber sogar im Dunkeln gelang, war schier unglaublich. Oft in der Nacht, wenn Nil vergeblich nach einer Fliege oder einer Stechmücke schlug, hielt Ah Fatt seinen Arm fest und befahl ihm, sich ruhig zu halten: »Pst! Lass mich hören.«
Nun war es verlorene Liebesmüh, in der Zelle um Ruhe zu
bitten: Das Knarren der Spanten und Planken, das Plätschern des Wassers am Rumpf, die Schritte der Seeleute an Deck und die Stimmen der Auswanderer auf der anderen Seite des Trennschotts sorgten dafür, dass es nie ganz still war. Aber Ah Fatt konnte offenbar seinen Gehörsinn so einstellen, dass bestimmten Geräusche ausgeblendet wurden und er sich auf andere umso besser konzentrieren konnte. Wenn das Insekt wieder heransummte, schoss seine Hand ins Dunkel, und schon war das Summen verstummt. Das funktionierte sogar, wenn das Insekt sich auf Nils Körper niederließ: Ah Fatt pflückte es im Dunkeln ab, und Nil spürte nur ein leichtes Zwicken auf der Haut.
In dieser Nacht war jedoch weder das Summen eines Insekts noch Nils Umsichschlagen der Grund, weshalb Ah Fatt plötzlich »Pst, horch!« sagte.
»Was ist denn?«
»Horch!«
Plötzlich rasselten Ah Fatts Ketten, und gleich darauf hörte man panisches Quieken. Und dann ein Knacken wie von einem brechenden Knochen.
»Was war das?«, fragte Nil.
»Ratte.« Es roch nach Exkrementen, als Ah Fatt den Deckel von dem Toiletteneimer abhob, um das tote Tiere hineinfallen zu lassen.
»Ist mir unbegreiflich, wie du sie mit bloßen Händen fangen kannst.«
»Gelernt.«
»Fliegen und Mäuse fangen?«
Ah Fatt lachte. »Nein. Hören gelernt.«
»Von wem?«
»Lehrer.«
»Bei was für einem Lehrer lernt man denn so etwas?«
»Boxlehrer.«
Nils Verwirrung nahm noch zu. »Bei einem Boxlehrer?«
Ah Fatt musste wieder lachen. »Seltsam, oder? Vater hat gewollt lernen.«
»Aber warum?«
»Er will, ich Englischmann werde«, sagte Ah Fatt. »Will ich lerne Sachen, die Mann muss können – Rudern, Jagen, Kricket. Aber in Guangzhou kein Jagd und kein Wiese für Kricket. Und Rudern Sache von Diener. Also ich muss lern Boxen.«
»Dein Vater? Hast du damals bei deinem Vater gelebt?«
»Nein. Bei Großmutter. Auf Dschunke.«
Tatsächlich war das Fahrzeug ein Kantoner Küchenboot gewesen, mit einem breiten, flachen Bug, auf dem man Geschirr spülen und Schweine schlachten konnte. Achtern war eine Kombüse mit einem Herd, der vier Kochstellen hatte, und einem Bambusdach darüber. Der mittlere Teil, vertieft und mit einem Sonnensegel versehen, hatte einen Tisch und Bänke für Kunden; das Heck war viereckig und erhöht, mit einem doppelstöckigen Aufbau. Hier wohnte die Familie – Ah Fatt, seine Mutter, seine Großmutter und zeitweise auch der eine oder andere Verwandte.
Das Küchenboot war ein Geschenk von Ah Fatts Vater, und es stellte einen Fortschritt im Leben der Familie dar: Vor der Geburt des Jungen hatten sie auf einem nur halb so großen Boot gelebt. Barry hätte gern noch mehr für seinen Sohn getan, dessen uneheliche Geburt schwer auf seinem Gewissen lastete. Mit Freuden hätte er Chi Mei und ihrer Familie ein Haus gekauft, in der Stadt oder in einem der umliegenden Dörfer, zum Beispiel in Chuen-pi oder Whampoa. Aber es war eine Dan-Familie, zum Leben auf dem Fluss bestimmt und an Land nicht willkommen. Barry wusste das und erhob
keine Einwände, obwohl es ihm lieb gewesen wäre, wenn sie ein Schiff erworben hätte, das ihm zur Ehre gereicht hätte, beispielsweise ein großes, farbenprächtiges Hausboot, dessen er sich bei seinem Comprador Chunqua hätte rühmen können. Doch Chi Mei und ihre Mutter waren sparsame Leute, und eine Wohnung, die kein Einkommen abwarf, war für sie wie eine unfruchtbare Sau. Nicht nur bestanden sie darauf, dass ein Küchenboot gekauft wurde, sie machten es auch noch in Sichtweite der Fankuai-Stadt fest. So kam es, dass Ah Fatt, als er anfing, bei der Bedienung der Kunden zu helfen – also sobald er sich auf einem schrägen Deck auf den Beinen halten konnte –, von den Fenstern der Guten-Fabrik aus deutlich zu sehen war.
»Du bist vielleicht einer, Barry«, spotteten die anderen Parsen. »Lässt deinen Bastard wie einen Bootsjungen aufwachsen. Deinen Töchtern baust du
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