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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Prachthäuser am Queensway, und der kleine Scheißer geht leer aus? Sicher, er ist keiner von uns, aber du kannst ihn doch nicht einfach links liegen lassen …«
    Das war ungerecht, denn jeder konnte sehen, dass Barry ein hingebungsvoller und ehrgeiziger Vater war, der seinen einzigen Sohn mit allem ausstatten wollte, was er für ein Leben als Gentleman brauchte: Der Junge sollte gebildet, aktiv und weltgewandt werden, so geschickt mit Gerte und Gewehr wie mit Buch und Feder, ein Mann, der Männlichkeit ausstrahlte wie ein Wal Sprühwasser ausstößt. Wenn die Schulen sich weigerten, den unehelichen Sohn einer Bootsfrau aufzunehmen, würde er eben Privatlehrer engagieren, die ihm Lesen und Schreiben beibrachten, auf Chinesisch und Englisch. So würde er auf alle Fälle später einmal als Dolmetscher für die Fankuai und ihre Gastgeber arbeiten können. Davon gab es in Kanton viele, aber die meisten waren absolut unfähig; der
Junge konnte es ohne Weiteres so weit bringen, dass er sie alle ausstach und sich vielleicht sogar einen Namen machte.
    Privatlehrer aufzutreiben, die bereit waren, einen Jungen auf einem Küchenboot zu unterrichten, war nicht einfach, aber dank Chunquas guten Diensten wurden einige gefunden. Ah Fatt lernte gern und schnell, und jedes Jahr, wenn sein Vater für die Saison nach Kanton zurückkehrte, wurden die Berichte über seine Fortschritte länger und seine Kalligrafie immer eleganter. Jedes Jahr brachte Barry extravagante Geschenke aus Bombay mit, um seinem Comprador dafür zu danken, dass er sich um die Erziehung des Jungen kümmerte. Und jedes Jahr revanchierte sich Chunqua seinerseits mit einem Geschenk, meist einem Buch für den Jungen.
    Als Ah Fatt dreizehn wurde, handelte es sich bei seinem Geschenk um eine schöne Ausgabe der berühmten, viel geliebten Reise in den Westen .
    Barry war fasziniert, als man ihm den Titel übersetzte: »Es wird ihm gut tun, über Europa und Amerika zu lesen. Eines Tages werde ich ihn auf eine Reise dorthin schicken.«
    Leicht verlegen erklärte ihm Chunqua, dass der Westen, um den es hier ging, etwas näher liege. Genauer gesagt: Gemeint sei Mr. Moddies eigenes Heimatland Hindustan oder Jambudvipa, wie es in den alten Büchern genannt wurde.
    »Aha.« Obwohl nicht mehr ganz so begeistert, gab Barry dem Jungen das Geschenk trotzdem, nicht ahnend, dass er diese Entscheidung schon bald bereuen sollte. Später gelangte er zu der Überzeugung, dass dieses Buch seinem Sohn die Flausen in den Kopf gesetzt hatte: »Ich will in den Westen fahren …«
    Jedes Mal, wenn der Junge ihn sah, bat er darum, in die Heimat des Vaters reisen zu dürfen. Doch das war der einzige Wunsch, den ihm Barry nicht gewähren konnte. Der Gedanke,
den Jungen auf einem der Schiffe seines Schwiegervaters nach Bombay segeln zu lassen, das Bild, wie er die Gangway herabkommen und von einer Schar wartender Verwandter abgeholt würde, die Vorstellung, seiner Schwiegermutter, seiner Frau, seinen Töchtern den lebenden Beweis für sein anderes Leben in Kanton vorzuführen, einer Stadt, die sie nur als Quelle feinster Seidenstoffe, schöner Fächer und märchenhafter Geldsummen kannten – nichts davon konnte er auch nur einen Moment lang ernsthaft erwägen. Es wäre gewesen, als hätte man ein Heer von Termiten auf die Parkettböden seines Hauses in Churchgate losgelassen. Die anderen Parsen in Kanton wussten von dem Jungen, aber er konnte sich auf ihre Diskretion verlassen. Immerhin war er, Barry, nicht der Einzige, der in den langen Monaten des Exils dem zölibatären Leben nicht gewachsen war. Und selbst wenn das eine oder andere Gerücht in seine Heimatstadt gelangen sollte, würden die Leute es ignorieren, solange der Beweis verborgen blieb. Würde er den Jungen doch mitbringen, sodass jeder ihn mit eigenen Augen sehen konnte, dann würde ein flammender Skandal an den Toren des Feuertempels ausbrechen und eine Feuersbrunst auslösen, der sein lukrativer Lebensstil letztlich zum Opfer fallen würde.
    »Nein, Freddy, hör mir zu«, sagte er zu Ah Fatt. »Dieser ›Westen‹, den du im Kopf hast, ist nur eine Erfindung aus einem albernen alten Buch. Später einmal, wenn du erwachsen bist, werde ich dich in den echten Westen schicken, nach Frankreich oder Amerika oder England, in irgendein Land, in dem kultivierte Menschen leben. Wenn du dann dort bist, kannst du dich als Prinz oder als Mann der Fuchsjagd etablieren. Aber schlag dir Hindustan aus dem Kopf. Das ist das einzige Land, das nicht

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