Das mohnrote Meer - Roman
Zachary bekam einen Schlag ins Gesicht.
Dann blinkte eine Klinge im Lampenlicht, und die Spitze drückte sich an Zacharys Oberlippe. »Ich hab meine Erfahrungen gemacht«, sagte Crowle, »und du wirst sie auch noch machen. Du bist noch so ein grüner Junge. Aber ich werd dir schon noch verklickern, woher der Wind weht.«
»Mit Ihrem Messer, Mr. Crowle?« Die Klinge rutschte langsam abwärts, in gerader Linie, von Zacharys Nase über das Kinn zur Kehle.
»Lass dir eins gesagt sein, Grünschnabel: Du bist nicht Nigger genug, um Jack Crowle aufgetoppt hängen zu lassen. Eh du mich abservierst, mach ich dich kalt.«
»Dann tun Sie es, Mr. Crowle. Am besten gleich.«
»Ich würde dich ohne die geringsten Skrupel umbringen, Grünschnabel«, sagte Mr. Crowle mit zusammengebissenen Zähnen. »Das kannst du mir glauben. Ich hab’s schon mal gemacht, und ich würd’s wieder tun.«
Zachary spürte, wie das kalte Metall sich gegen seinen Hals presste. »Nur zu, Mr. Crowle«, sagte er und wappnete sich innerlich. »Tun Sie’s. Ich bin bereit.«
Der Druck der Messerklinge verstärkte sich, doch Zachary schaute dem Ersten Steuermann unverwandt in die Augen, obwohl er jeden Moment damit rechnen musste, dass er zustoßen würde. Doch Mr. Crowle hielt seinem Blick nicht stand, seine Augen irrten ab, dann ließ er das Messer sinken.
»Der Teufel soll Sie holen, Reid!«
Crowle legte den Kopf in den Nacken und stieß einen Klageschrei aus, der aus den tiefsten Tiefen seiner Eingeweide zu kommen schien. »Zur Hölle mit Ihnen, Reid. Sie verdammter …«
In diesem Moment, als der Erste Steuermann noch vor Zachary stand und ungläubig auf das Messer hinabschaute, das er nicht hatte benutzen können, ging knarrend die Tür auf. In
der Öffnung erschien die magere, schattenhafte Gestalt des halb chinesischen Sträflings. Er hielt einen frisch geschliffenen Marlspieker in den Händen, aber nicht wie ein Seemann, sondern wie ein Kämpfer, mit der Spitze nach vorn.
Der Erste Steuermann spürte den Luftzug und fuhr herum, das Messer abwehrbereit gezückt. Als er sah, wer es war, sagte er fassungslos: »China-Jack?«
Ah Fatts Gegenwart wirkte offenbar belebend auf Crowle. Von einem Moment auf den anderen war er wieder ganz der Alte. Als würde ihn die Aussicht auf eine gewaltsame Entladung geradezu erheitern, stieß er mit dem Messer nach Ah Fatt, doch der wich mühelos aus, auf den Fußballen balancierend, scheinbar ohne sich groß zu bewegen. Er hatte die Augen fast geschlossen, wie im Gebet, und den Marlspieker hielt er nicht mehr nach vorn gerichtet, sondern an die Brust gedrückt, mit der Spitze unter seinem Kinn.
»Ich schneid dir die Zunge raus, China-Jack«, sagte Mr. Crowle. »Und dann stopf ich sie dir wieder ins Maul und zwing dich, sie aufzufressen.«
Er stieß noch einmal zu, wollte Ah Fatt das Messer in den Bauch rammen, doch Ah Fatt drehte sich weg. Der Stoß ging ins Leere, und durch den Schwung taumelte Crowle nach vorne, sodass sich seine Seite ungeschützt darbot. Ah Fatt wirbelte auf der Ferse herum wie ein Stierkämpfer und stieß Crowle den Marlspieker bis zum Heft in den Brustkorb. Er behielt die Waffe in der Hand, während Crowle zusammenbrach, dann zog er sie heraus und richtete die Spitze auf Zachary. »Bleib, wo du bist. Oder du kriegst auch …«
Dann war er verschwunden, so plötzlich, wie er gekommen war. Er schlug die Tür zu und schob den Marlspieker durch die Ösen des Beschlags, sodass Zachary in der Kajüte eingesperrt war.
Zachary kniete sich neben die Blutlache, die unter dem Ersten Steuermann hervorquoll. »Mr. Crowle?«
Er vernahm ein ersticktes Flüstern: »Reid? Reid …«
Zachary beugte sich hinab und lauschte der ersterbenden Stimme.
»Sie waren der eine, Reid – der eine, nach dem ich immer auf der Suche war …«
Seine Worte erstickten in einem Schwall Blut, der ihm aus Mund und Nase quoll. Dann fiel sein Kopf nach hinten, und sein Körper wurde steif. Zachary hielt ihm die Hand unter die Nase: Er atmete nicht mehr. Der Schoner holte über, und der leblose Körper rollte zur Seite. Die Ecke des Blatts aus der alten Mannschaftsrolle schaute aus der Weste. Zachary zog das Papier heraus und steckte es ein. Dann stand er auf und warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Sie gab ein Stückchen nach, und er ruckelte daran, bis der Marlspieker herausfiel.
Er stürmte aus der Kajüte und sah, dass seine eigene Tür offen stand. Ohne einen Blick hineinzuwerfen, rannte er aufs
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