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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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wieder los. »Sehen Sie sie jetzt? In meinen Augen? Ma Taramony? Ist sie da? In mir?«
    Er sah Nil nicken, und seine Freude kannte keine Grenzen. »Sind Sie sicher?«, fragte er. »Sie ist jetzt wirklich da? Ist es so weit?«
    »Ja.« Nil sah ihm in die Augen und nickte. »Ja, sie ist da. Ich sehe sie – ihre Zeit ist gekommen …«
    Der Gumashta ließ Nils Hand los und schlang die Arme um sich. Jetzt, da die letzten Reste seines früheren Selbst von ihm abfallen sollten, entdeckte er in seinem Inneren eine seltsame Zuneigung und Zärtlichkeit für diesen Körper, der so lange seiner gewesen war. Nun hielt ihn hier nichts mehr. Er ging zurück an Deck und tat einen Schritt in Richtung Deckshaus. Da fiel sein Blick auf Kalua, und wieder ließ er sich auf alle viere nieder und kroch am Schanzkleid entlang. Bei der vornübergebeugten Gestalt angelangt, zog er sich hoch und hielt sich an ihr fest, als ein Brecher überkam und das Wasser ihm fast die Beine unter dem Leib wegriss.
    »Warte«, flüsterte er Kalua zu. »Nur noch kurze Zeit, und du wirst deine Freiheit finden. Auch dein moksha ist nahe …«
    Da Taramony nun ganz in ihn eingegangen war, schien es ihm, als wäre er der Schlüssel, der die Zellen all jener aufschloss,
die in den Trugbildern dieser Welt gefangen waren. Durch diese Erkenntnis gestärkt, gelangte er, durchnässt und angeschlagen, wie er war, aber im ekstatischen Besitz seines neuen Selbst, zu den hinteren Kabinen. An Zacharys Tür blieb er wie schon so oft stehen, um auf Flötenklänge zu lauschen; stattdessen hörte er Geflüster.
    Hier, genau hier, hatte ihm der Klang einer Flöte den Beginn seiner Verwandlung angezeigt; nun hatte sich der Kreis geschlossen, alles war so gekommen, wie es vorausgesagt worden war. Seine Hand wanderte zu seinem Amulett, und er zog das Papier daraus hervor. Er drückte es an die Brust und begann sich um sich selbst zu drehen, und auch das Schiff tanzte mit ihm, das Deck hob sich im Rhythmus seiner wirbelnden Füße. Von überirdischer Glückseligkeit ergriffen, schloss er die Augen.
    So traf ihn Mr. Crowle an: um die eigene Achse kreisend, die Arme hochgereckt. »Pander, Sie verdammter Hurenhöker …!« Mit einem Schlag ins Gesicht des Gumashtas setzte er dessen Tanz ein Ende. Dann fiel sein Blick auf das Papier, das Babu Nob Kissin, jetzt am Boden kauernd, umklammert hielt. »Was ist denn das? Lassen Sie mal sehen.«

    Paulette wischte sich die Tränen aus den Augen. Nie hätte sie gedacht, dass eine Begegnung mit Zachary eine so feindselige Wendung nehmen könnte, aber da es nun so gekommen war, wollte sie nicht alles noch schlimmer machen. »Es hat keinen Zweck, Mr. Reid«, sagte sie und stand auf. »Es war ein großer erreur , dass wir miteinander gesprochen haben. Ich war gekommen, um Ihnen zu sagen, dass unsere Freunde Sie dringend brauchen; ich war gekommen, um von mir selbst zu sprechen … Aber es ist sinnlos. Alles was ich sage, verstärkt unsere Missverständnisse nur noch. Ich gehe jetzt besser.«

    »Warten Sie! Miss Lambert!«
    Die Vorstellung, sie zu verlieren, versetzte Zachary in Panik. Er sprang auf und griff blindlings in die Richtung, aus der ihre Stimme kam. Kaum hatte er die Hand erhoben, streiften seine Finger ihren Arm. Er wollte sie wegziehen, doch seine Hand bewegte sich nicht; stattdessen schob sein Daumen den Stoff ihres Hemdes zurück. Sie war ihm so nahe, dass er ihren Atem hörte und ihn sogar warm auf seinem Gesicht spürte. Seine Hand wanderte über ihre Schulter zu ihrem Nacken und hielt zwischen Kragen und Kopftuch inne, um das Stück nackter Haut unterhalb ihres hochgesteckten Haars zu erkunden. Seltsam, dass ihn die Vorstellung, Paulette als Laskaren zu sehen, einmal so abgestoßen hatte; seltsam, dass er sie für immer in Samt und Seide hatte sehen wollen. Denn obgleich er im Dunkeln nichts erkennen konnte, erschien sie ihm in ihrer Verkleidung begehrenswerter denn je, ein Wesen, so veränderlich und flüchtig, dass man ihm unmöglich widerstehen konnte. Und plötzlich presste sich sein Mund auf ihren.
    So versunken waren beide, dass sie langsam die Augen schlossen und nicht merkten, wie an die Tür geklopft wurde. Erst als Mr. Crowle »Sind Sie da drin, Grünschnabel?« rief, fuhren sie auseinander.
    Paulette drückte sich flach gegen das Schott, und Zachary räusperte sich. »Ja, Mr. Crowle, was gibt’s?«
    »Können Sie mal rauskommen?«
    Zachary öffnete die Tür einen Spalt. Neben Mr. Crowle kauerte Babu Nob Kissin, den

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