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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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hier immer großer Andrang, doch aufgrund der späten Ernte in diesem Jahr war es nicht allzu voll.
    Ein kleiner Trupp uniformierter Wachposten hatte am Tor Dienst, und Diti war erleichtert, als sie sah, dass der Sardar, ein stattlicher älterer Mann mit einem weißen Schnauzbart, ein entfernter Verwandter ihres Mannes war. Als sie ihm leise Hukam Singhs Namen nannte, wusste er sofort, weswegen sie gekommen war. »Dein Mann ist in keiner guten Verfassung«,
sagte er und wies ihr die Richtung. »Bring ihn schnell nach Hause.«
    Diti wollte die Fabrik schon betreten, da warf sie über die Schulter des Sardars hinweg einen Blick in das Waaghaus und blieb, von plötzlicher Furcht gepackt, stehen. Das Gebäude war so lang, dass die offene Tür am anderen Ende nur noch als ferner Lichtpunkt zu erkennen war. Die vielen gigantischen, in Reih und Glied stehenden Waagen ließen die Menschen ringsum wie Zwerge erscheinen. Neben jeder Waage saß ein Engländer mit einem hohen Hut, der eine Gruppe von Wägern und Buchhaltern beaufsichtigte. Um die Sahibs herum wimmelten turbantragende Schreiber, die Arme voller Papiere, und Serishtas in Dhotis mit dicken Registern, und überall schwärmten Gruppen halb nackter Jungen umher, die turmhohe Stapel von Mohnblütenhüllen schleppten.
    »Wo muss ich hin?«, fragte Diti den Sardar beunruhigt. »Wie soll ich mich hier zurechtfinden?«
    »Geh hier geradeaus durch«, lautete die Antwort, »und dann immer weiter, durch die Wiegehalle in den Mischraum. Da erwartet dich einer unserer Verwandten, der auch hier arbeitet. Er zeigt dir, wo du deinen Mann findest.«
    Diti zog sich ihren Sari übers Gesicht und trat ein. Sie ging an Säulen aus aufeinandergestapelten Mohnblüten-Fladen vorbei, ohne sich um die Blicke der Serishtas, Schreiber und einfachen Arbeiter zu kümmern. Keine andere Frau war zu sehen, aber alle hier waren viel zu beschäftigt, um sie zu fragen, wohin sie wolle. Dennoch dauerte es endlos, bis sie die Tür am anderen Ende erreichte, und als sie ins helle Sonnenlicht hinaustrat, blieb sie einen Moment geblendet stehen. Eine zweite Tür vor ihr führte in einen anderen wellblechgedeckten Bau, noch größer und noch höher als das Waaghaus, das größte Gebäude, das Diti je gesehen hatte. Sie murmelte
ein Gebet und trat ein, doch der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie erneut innehalten. Der Raum, in dem sie sich befand, war so riesig, dass ihr schwindlig wurde und sie sich an die Wand lehnen musste. Lichtstreifen fielen durch die deckenhohen Fensterschlitze, durch die ganze Halle zogen sich mächtige viereckige Säulen, und die Decke schwebte so hoch über dem gestampften Boden, dass die Luft fast winterlich kühl war. Der Übelkeit erregende, erdige Geruch des Opiumsafts hing dicht über dem Boden wie der Rauch eines Holzfeuers an einem kühlen Tag. Auch hier säumten gigantische Waagen die Wände, in diesem Fall für das Rohopium. Rings um jede dieser Waagen standen Dutzende irdener Krüge von genau der Art, in die auch Diti ihre Ernte packte. Wie vertraut sie ihr waren, diese Gefäße: Jedes fasste ein Maund Rohopiummasse von einer Konsistenz, dass eine Kugel davon einen Moment lang an der nach unten gekehrten Handfläche kleben blieb. Wer hätte beim Anblick der Gefäße geahnt, wie viel Zeit und Mühe es kostete, sie zu füllen? Hier landete sie also, die Frucht ihrer Felder. Diti konnte nicht anders, sie musste sich neugierig umsehen, und sie staunte, mit welcher Geschwindigkeit die Gefäße auf die Waagen und wieder herabgeschwungen wurden. Dann wurden sie mit Zetteln versehen und zu einem auf einem Stuhl sitzenden Sahib gebracht, der in ihrem Inhalt stocherte, daran herumdrückte und ihn beschnupperte, um sie dann mit einem Stempel zu kennzeichnen. Einige wurden zur Weiterverarbeitung zugelassen, andere zu minderen Zwecken genutzt. Nahebei standen, von einer Reihe mit Stöcken bewaffneter Wachposten auf Abstand gehalten, die Bauern, deren Gefäße gewogen wurden. Abwechselnd angespannt und wütend, unterwürfig und resigniert, warteten sie darauf zu erfahren, ob sie mit der Ernte dieses Jahres ihren Vertrag erfüllt hatten – wenn nicht, würden sie mit einer noch größeren
Schuldenlast ins nächste Jahr gehen müssen. Diti sah, wie einer der Wachmänner einem Bauern ein Stück Papier brachte, worauf der Mann ein Protestgeheul anstimmte. Überall in der Halle kam es zu Zank und Streit: Bauern schrien Serishtas an, Grundbesitzer beschimpften ihre Pächter.
    Als Diti

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