Das mohnrote Meer - Roman
merkte, dass sie Aufmerksamkeit zu erregen begann, zog sie die Schultern ein und ging weiter, eilte durch die endlose Höhle und wagte erst stehen zu bleiben, als sie wieder in die Sonne hinausgetreten war. Sie hätte gern ein wenig Atem geschöpft, doch da sah sie einen Wachposten auf sich zukommen, und so raffte sie ihren Sari und ging schnell in das Gebäude zu ihrer Rechten.
Und wieder war sie verblüfft, diesmal jedoch nicht über die gewaltigen Ausmaße des Raums, eher im Gegenteil: Es war eine Art dämmriger Tunnel, nur durch einige kleine Öffnungen in der Wand erhellt. Die Luft war heiß und übel riechend wie in einer ringsum geschlossenen Küche, nur dass es nicht nach Öl und Gewürzen roch, sondern nach flüssigem Opium und Schweiß, ein so durchdringender Gestank, dass Diti sich die Nase zuhielt, um nicht würgen zu müssen. Kaum hatte sie sich wieder gefasst, bot sich ihr ein erschreckendes Bild: eine Reihe dunkler, beinloser Rümpfe, die sich stetig im Kreis bewegten wie eine Horde geknechteter Dämonen. Dieser Anblick – im Verein mit dem betäubenden Dunst – ließ sie taumeln, und um nicht ohnmächtig zu werden, setzte sie sich langsam wieder in Bewegung. Als ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, entdeckte sie das Geheimnis der kreisenden Rümpfe: Es waren halb nackte Männer, die hüfttief in Opiumbottichen umherstampften, um die Masse weich zu kneten. Ihre Augen waren blicklos und glasig, aber irgendwie gelang es ihnen, in Bewegung zu bleiben, langsam wie Ameisen im Honig, stampfend und tretend. Wenn sie
nicht mehr konnten, setzten sie sich auf den Rand des Bottichs und rührten nur mit den Füßen in dem dunklen Schlamm. Sie sahen dann aus wie Ghule, mehr als Diti es je an einem lebenden Wesen gesehen hatte. Ihre Augen glühten im Halbdunkel rot, und es sah aus, als wären sie splitternackt, denn ihre von der Opiummasse durchtränkten Lendentücher – sofern sie welche trugen – waren nicht mehr von ihrer Haut zu unterscheiden. Fast ebenso beängstigend waren die weißen Aufseher, die in Hemdsärmeln und ohne Hut und Jacke durch die Gänge patrouillierten, mit furchterregenden Werkzeugen bewaffnet: Metallschaufeln, Glaskellen und langstieligen Harken. Als einer von ihnen auf Diti zukam, hätte sie fast aufgeschrien. Er sagte irgendetwas – was es war, wollte sie gar nicht wissen, denn von einem solchen Menschen angesprochen zu werden, war schon allein ein so heftiger Schock, dass sie schleunigst den Tunnel hinab- und am anderen Ende hinauslief.
Erst als sie durch die Tür war, gestattete sie sich wieder, frei zu atmen, und versuchte, ihre Lunge von dem Geruch des durchgekneteten Rohopiums zu reinigen. Da sagte jemand: »Bhaujī? Alles in Ordnung?« Es war ihr Verwandter, und Diti musste an sich halten, um ihm nicht um den Hals zu fallen. Zum Glück begriff er auch ohne Erklärungen, welche Wirkung der Tunnel auf sie ausgeübt hatte. Er führte sie über einen Hof zu einem Brunnen und goss Wasser aus einem Eimer, sodass sie trinken und sich das Gesicht waschen konnte.
»Jeder braucht Wasser, wenn er aus dem Mischraum kommt«, sagte er. »Ruh dich ein bisschen aus, Bhaujī.«
Dankbar kauerte sich Diti in den Schatten eines Mangobaums, und er erklärte ihr die Gebäude ringsum. Da gab es einen Raum, in dem die Mohnblütenhüllen befeuchtet wurden, bevor sie in den Packraum kamen, und etwas zurückgesetzt
stand das Haus, in dem Medikamente hergestellt wurden: Morphin, Codein, Narkotin und andere weiße, von den Sahibs hochgeschätzte Pulver.
Diti ließ die Worte ihres Verwandten um sich herum und von sich fort rollen, dann besann sie sich wieder auf den Zweck ihres Hierseins. »Komm«, sagte sie ungeduldig, »gehen wir.« Sie standen auf, und er führte sie schräg über den Hof in ein weiteres riesiges Gebäude, so groß wie die Wiegehalle, doch während jene vom Lärm der Auseinandersetzungen widergehallt hatte, herrschte hier Grabesstille, als wäre es ein Höhlenschrein im Himalaja, kühl, feucht und nur schwach erleuchtet. Riesige Regale zogen sich die Wände entlang bis hinauf zur Decke, und in den Fächern lagen Zehntausende genau gleich aussehender Opiumkugeln aufgereiht, schwarz glänzend, jede ungefähr von der Form und Größe einer Kokosnuss. »Hier wird das Opium getrocknet«, flüsterte Ditis Begleiter ihr ins Ohr. Jetzt bemerkte sie an den Regalen Verstrebungen und Leitern, an denen Trupps von Jungen herumkletterten, von Regal zu Regal, behände wie Akrobaten
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