Das mohnrote Meer - Roman
war bereits spät am Nachmittag, als Kaluas Karren sich endlich seinem Ziel näherte: der Sudder Opium Factory, von alten Kompanie-Arbeitern auch liebevoll »Ghazipur Karkhana« genannt. Die Fabrik war riesig, ein achtzehn Hektar großes Gelände mit zwei benachbarten Komplexen, jeder mit zahlreichen Höfen, Wassertanks und wellblechgedeckten Hallen. Wie die großen mittelalterlichen Forts am Ganges hatte die Fabrik einen bequemen Zugang zum Fluss, lag aber hoch genug, um von den jahreszeitlichen Überschwemmungen verschont zu bleiben. Doch im Gegensatz zu überwucherten und weitgehend aufgegebenen Forts wie Chunar und Buxar war die Fabrik alles andere als eine malerische Ruine. Ihre Türme beherbergten Wachtrupps, ihre Brustwehren waren mit einer großen Zahl bewaffneter Wachposten bemannt.
Die Betriebsleitung lag in Händen eines hohen Beamten der Ostindien-Kompanie, der mehrere Hundert indische Arbeiter unter sich hatte. Die übrige Belegschaft bestand aus Aufsehern, Buchhaltern, Lagerverwaltern, Chemikern und Assistenten. Der Betriebsleiter wohnte auf dem Fabrikgelände, in einem weitläufigen Bungalow, in dessen farbenprächtigem Garten vielerlei Arten Ziermohn blühten. Ganz in der Nähe stand die englische Kirche, deren Geläut den Tagesablauf markierte. Sonntags rief ein Kanonenschuss die Gläubigen zum Gottesdienst. Die Kanoniere wurden nicht
von der Fabrik entlohnt, sondern von der Kirchengemeinde, eine Ausgabe, die keins ihrer Glieder reute, denn die Opiumfabrik war eine von anglikanischer Frömmigkeit durchdrungene Einrichtung.
Doch obwohl die Sudder Opium Factory unbestreitbar groß und gut bewacht war, deutete nichts an ihrem äußeren Erscheinungsbild daraufhin, dass sie eines der kostbarsten Juwelen in Königin Victorias Krone war. Vielmehr schien stets ein Gifthauch der Lethargie über ihrer Umgebung zu schweben. Die Affen beispielsweise, die dort lebten – Diti zeigte Kabutri einige von ihnen, als der Ochsenkarren auf die Mauern zurollte: Anders als viele ihrer Artgenossen schnatterten sie weder, noch balgten sie sich oder bestahlen Passanten. Wenn sie von ihren Bäumen herunterkamen, dann nur, um an den offenen Abwasserrinnen der Fabrik zu lecken. Hatten sie ihr Verlangen gestillt, kletterten sie wieder in die Äste hinauf und setzten ihre Überwachung des Ganges und seiner Strömungen benommen fort.
Kaluas Karren rumpelte langsam an den Außengebäuden der Fabrik entlang, einem Komplex von sechzehn riesigen Speichern, in denen das verarbeitete Opium lagerte. Die Befestigungen hier waren gewaltig, die Wachen besonders scharfäugig, und das mussten sie auch sein, denn der Inhalt der Lagerhäuser, hieß es, war mehrere Millionen Pfund Sterling wert, so viel, dass man davon einen großen Teil der Londoner City hätte kaufen können.
Als sie sich dem Hauptkomplex der Fabrik näherten, begannen Diti und Kabutri zu niesen, und bald schnieften auch Kalua und die Ochsen, denn sie waren jetzt dort angelangt, wo die Bauern ihre »Mohnabfälle« abluden: Blätter, Stiele und Wurzeln, aus denen die Verpackung des Rauschgifts hergestellt wurde. Sie wurden für die Lagerung gemahlen,
und der feine Staub, der dabei entstand, hing in der Luft wie ein Schnupftabaknebel. Nur wenige Passanten vermochten ihm standzuhalten, ohne in Niesanfälle auszubrechen, und es war ein Wunder, dass der Staub die Kulis, die dort arbeiteten, so wenig zu stören schien wie ihre jungen englischen Aufseher.
Mit triefenden Nüstern trotteten die Ochsen weiter, an dem massiven, messingbeschlagenen Haupttor der Fabrik vorbei zu einem kleineren, stärker frequentierten Eingang an der Südwestecke der Außenmauern, wenige Schritte vom Ganges entfernt. Das Ufer sah hier anders aus als überall sonst, denn die Ghats um die Fabrik waren mit Tausenden zerbrochener gharās befestigt, jener rundbödigen Tongefäße, in denen das Rohopium in die Fabrik gebracht wurde. Einem weitverbreiteten Glauben zufolge ließen sich Fische, die an den Scherben geknabbert hatten, leichter fangen, und das Ufer war deshalb stets dicht mit Anglern besetzt.
Diti ließ Kabutri bei Kalua zurück und ging allein auf den Eingang zu. Hier stand das Waaghaus, in das die Bauern der Gegend jedes Frühjahr ihre Hüllen aus Mohnblüten brachten, die dann gewogen und nach Güteklassen von »fein« bis »grob« sortiert wurden. Auch Diti hätte ihre »Fladen« hierhergeschickt, hätte sie so viele davon angesammelt, dass der Aufwand sich lohnte. Zur Erntezeit herrschte
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