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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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worden. Glaubt ihr etwa, irgendeiner von euch ist etwas Besseres als er? Haltet den Mund und geht wieder an die Arbeit, sonst kriegt ihr meine Peitsche zu spüren!«
    Die Sardars verstummten eingeschüchtert und machten vier Männern Platz, die Hukam Singhs leblosen Körper vom Boden aufhoben. Diti folgte ihnen, und bevor sie hinausging, sagte der Engländer noch: »Sagen Sie ihm, er kann seine Arbeit jederzeit wiederhaben.«
    Diti legte dankend die Hände aneinander, aber im Innersten wusste sie, dass die Tage ihres Mannes in der Fabrik vorüber waren.
    Auf dem Heimweg in Kaluas Karren, den Kopf ihres Mannes im Schoß, die Hand ihrer Tochter in ihrer, hatte sie weder Augen für den Palast von Ghazipur mit seinen vierzig Säulen noch für das Standbild des Lat-Sahib. Ihr ganzes Denken kreiste nun um die Zukunft, und sie fragte sich, wie sie ohne den Lohn ihres Mannes zurechtkommen sollten. Das Licht in ihren Augen trübte sich, und obwohl es bis zum Abend noch einige Stunden waren, kam es ihr vor, als sei sie schon jetzt in Dunkelheit gehüllt. Wie aus alter Gewohnheit stimmte sie das Gebetslied für das Ende des Tages an:
    Sājh bhaie
Sājha ghar ghar ghume
Ke mora sājh
manayo ji

    Die Dämmerung flüstert
vor jeder Tür:
Es ist Zeit,
Mein Kommen zu verkünden

    Knapp außerhalb der Stadtgrenze von Kalkutta, südlich der Hafenviertel Kidderpur und Metia Bruz, erstreckte sich ein leicht abfallendes Ufer, von dem aus man weit über den Hooghly blicken konnte. Dies war der grüne Vorort Garden Reach, in dem die weißen Kaufleute von Kalkutta ihre Landsitze hatten. Wie um über die Schiffe zu wachen, die ihre Namen und ihre Waren trugen, lagen hier nebeneinander die Anwesen der Ballards, Fergusons, McKenzies, MacKays, Smoults und Swinhoes. Die Häuser waren im Baustil so unterschiedlich wie die Geschmäcke ihrer Eigentümer: Manche waren den großen Herrenhäusern Englands und Frankreichs nachempfunden, andere den Tempeln der griechischen und römischen Antike. Jedes dieser Grundstücke bot genug Raum für weitläufige Park- und Gartenanlagen, und diese waren fast noch unterschiedlicher als die Häuser, die sie umschlossen. Die Malis, die diese Gärten pflegten, überboten sich gegenseitig in der fantasievollen Gestaltung ihrer Anlagen, schufen hier einen kleinen Ziergarten mit kunstvoll beschnittenem Baum- und Strauchwerk, dort eine Allee mit Bäumen, die sie in französischer Manier stutzten. In die Grünflächen eingebettet lagen künstliche Gewässer, manche lang und gerade wie persische Qanate, andere unregelmäßig geformt wie englische Teiche. Einige der Gärten hatten sogar geometrische Mogul-Terrassen vorzuweisen, mit Bächen, Brunnen und mosaikverzierten Pavillons. Der Wert eines Anwesens bemaß sich jedoch nicht nach diesen extravaganten Zutaten, sondern vielmehr danach, ob es über einen guten Ausblick über den Fluss verfügte: Ein Garten mochte noch so schön gestaltet sein, er trug dennoch nichts zur Mehrung des Wohlstands seines Besitzers bei; hingegen wirkte sich die Möglichkeit, das Kommen und Gehen auf dem Fluss im Auge zu behalten, ganz unmittelbar auf das materielle Wohl und Wehe all derer aus, die von diesem Verkehr
abhängig waren. Nach diesem Kriterium, darüber herrschte Einigkeit, hatte das Anwesen von Benjamin Brightwell Burnham nicht seinesgleichen, auch wenn es erst in vergleichsweise jüngerer Zeit erworben worden war. Dass der Besitz kein ehrwürdiges Alter aufwies, konnte in mancher Hinsicht sogar als Vorteil gelten, denn so hatte Mr. Burnham ihm selbst einen Namen geben können: Bethel. Und mehr noch: Da Mr. Burnham das Gelände sozusagen im Urzustand gekauft hatte, konnte er es auch ganz nach seinen Wünschen und Bedürfnissen gestalten und zögerte nicht, unansehnlichen Bewuchs, der ihm den Blick auf den Fluss verstellte, beseitigen zu lassen, darunter mehrere uralte Mangobäume und ein struppiges Dickicht fünfzehn Meter hoher Bambusstauden. In Bethel hinderte nichts den freien Blick zwischen Haus und Wasser, ausgenommen der Pavillon, der sich knapp über dem Flussufer erhob und auf Ghat und Landesteg des Anwesens hinabschaute. Dieses anmutige kleine Bauwerk unterschied sich insofern von den Pavillons auf den Nachbargrundstücken, als es von einem Dach im chinesischen Stil mit nach oben gebogenen Simsen und grün glasierten Fliesen bekrönt war.
    Jodu, der den Pavillon nach der Beschreibung des Bootsführers wiedererkannte, stieß sein Ruder in den Schlamm und lehnte sich auf die

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