Das mohnrote Meer - Roman
auf einem Jahrmarkt. Sie prüften die Opiumkugeln, und wenn einer der englischen Aufseher einen Befehl rief, warfen sie einander eine Kugel zu, von Hand zu Hand, bis sie wohlbehalten unten landete. Wie konnten sie mit einer Hand so zielsicher werfen, während sie sich mit der anderen festhielten, und das in einer Höhe, in der die kleinste falsche Bewegung den sicheren Tod bedeutete? Diti staunte über ihr Geschick, doch dann ließ einer von ihnen eine Kugel fallen, sie zerbarst auf dem Boden und ihr gummiartiger Inhalt spritzte weit umher. Sofort stürzten sich stockschwingende Aufseher auf den Missetäter, und sein Heulen und Schreien hallte durch den riesigen kühlen Raum. Diti lief schnell ihrem Verwandten nach und holte ihn an der Schwelle eines weiteren Gebäudes ein.
Er senkte ehrfürchtig die Stimme gleich einem Pilger, der im Begriff steht, das Allerheiligste eines Tempels zu betreten. »Das ist der Packraum«, flüsterte er. »Hier darf nicht jeder arbeiten – aber dein Mann Hukam Singh darf es.«
Es hätte tatsächlich ein Tempel sein können, denn den langen, gut belüfteten Mittelgang säumten Männer in Dhotis, die wie Brahmanen bei einem Festmahl mit gekreuzten Beinen auf dem Boden saßen, jeder auf seiner eigenen gewebten Matte, um sich herum ein Sortiment von Messingbechern und anderen Geräten. Diti wusste aus den Berichten ihres Mannes, dass in diesem Raum nicht weniger als zweihundertfünfzig Männer und doppelt so viele Läufer beschäftigt waren, und doch wurde hier so konzentriert gearbeitet, dass man, abgesehen vom Fußgetrappel der Läufer und den regelmäßig wiederkehrenden Rufen, mit denen die Fertigstellung einer neuen Opiumkugel verkündet wurde, kaum einen Laut hörte. Die Hände der Packer bewegten sich in schwindelerregendem Tempo: Sie legten die Halbkugeln der Formen mit Mohnblüten-Fladen aus und befeuchteten sie mit einer leichten Opiumlösung. Hukam Singh hatte Diti erzählt, dass die Zusammensetzung aller Materialien von den Direktoren der Kompanie im fernen London genau festgelegt wurde. Das System war so ausgeklügelt – die Läuferstaffeln brachten die exakte Menge jedes Materials zum genau richtigen Zeitpunkt an jeden Platz –, dass die Hände der Packer nie ins Stocken gerieten. Sie legten die Formen so aus, dass die befeuchteten Fladen zur Hälfte über den Rand hingen, dann gaben sie die Opiumkugel hinein, bedeckten sie mit der überhängenden Hülle, überzogen sie mit Mohnhäcksel und klopften sie dann wieder heraus. Jetzt mussten nur noch die Läufer mit der äußeren Umhüllung für das Opium kommen, den beiden Hälften einer Tonkugel. Die Opiumkugel wurde hineingelegt, und die
Hälften wurden zu einer schönen kleinen Kanonenkugel zusammengesetzt, ein sicheres Behältnis für dieses einträglichste Produkt des britischen Weltreichs. So reiste das Rauschgift übers Meer. Im fernen China wurde die Tonschale dann mit einem Beil zerschlagen.
Dutzende der schwarzen Behälter gingen jede Stunde durch die Hände der Packer und wurden auf einer Tafel genau registriert. Hukam Singh, nicht eben der Geschickteste unter den Männern, hatte vor Diti einmal damit geprahlt, dass er an einem einzigen Tag hundert davon zusammengesetzt habe. Heute aber regten sich seine Hände nicht, und er war auch nicht an seinem Platz. Diti sah ihn sofort, als sie den Raum betrat: Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden und schien einen Krampfanfall gehabt zu haben, denn aus dem Mundwinkel rann ihm ein dünner, blasiger Speichelfaden.
Plötzlich stürmten die Sardars, die den Packraum überwachten, auf Diti zu. »Wo bleiben Sie denn so lange? … Wissen Sie denn nicht, dass Ihr Mann ein afīmkhor ist? … Wieso lassen Sie ihn überhaupt hier arbeiten? … Wollen Sie, dass er stirbt?«
Ungeachtet all der Schrecken des Tages war Diti nicht gewillt, diese Angriffe auf sich beruhen zu lassen, und blaffte hinter ihrem Sari hervor: »Was fällt Ihnen ein, so mit mir zu reden? Wovon würden Sie ohne die afīmkhors wohl leben?«
Ein englischer Aufseher wurde auf die Auseinandersetzung aufmerksam und winkte die Sardars beiseite. Sein Blick wanderte von Hukam Singh zu Diti, und er sagte leise: »Tumhārā mard hai – ist das Ihr Mann?«
Sein Hindi klang gestelzt, aber freundlich. Diti nickte, senkte den Kopf, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als der Sahib die Sardars abkanzelte: »Hukam Singh war Sepoy in
unserer Armee, er hat als Freiwilliger in Burma gekämpft und ist verwundet
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