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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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es wäre für eine wertlose Frau wie dich so einfach, als satī zu sterben? Hast du vergessen, dass dein Körper seit dem Tag deiner Hochzeit unrein ist?«
    »Ein Grund mehr«, gab Diti zurück, »ihn dem Feuer zu übergeben. Und das wird leichter sein, als so zu leben, wie du sagst.«
    »Große Worte! Aber rechne nicht damit, dass ich dich aufhalten werde, wenn du dich zur satī machen willst. Wieso sollte ich? Eine satī in der Familie wird uns berühmt machen. Wir werden dir einen Tempel bauen, und die Opfergaben werden uns reich machen. Aber Frauen wie du reden viel – wenn es so weit ist, wirst du dich zu deiner Familie flüchten.«
    »Das werden wir ja sehen!« Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
    Nachdem sich die Idee einmal in ihrem Kopf festgesetzt hatte, konnte Diti kaum noch an etwas anderes denken. War es nicht weitaus besser, einen gefeierten Tod zu sterben, als von Chandan Singh abhängig zu sein oder auch in ihr eigenes Dorf zurückzukehren und ihrem Bruder und seiner Familie für den Rest ihres Lebens eine beschämende Last zu sein? Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie sich,
auch was Kabutri anbelangte. Sie konnte ihrer Tochter kein besseres Leben versprechen, wenn sie als Geliebte und Abhängige eines nichtswürdigen Mannes wie Chandan Singh am Leben blieb. Gerade weil er der Vater ihrer Tochter war, würde er niemals zulassen, dass sie seinen anderen Kindern gleichgestellt wurde, und seine Frau würde alles tun, um sie für ihre Abkunft zu bestrafen. Blieb Kabutri hier, würde sie kaum mehr sein als eine Dienerin ihrer Cousins und Cousinen. Sehr viel besser war es, Diti schickte sie in das Dorf ihres Bruders, wo sie mit dessen Kindern aufwachsen konnte; ein einzelnes Kind würde keine Bürde sein. Diti hatte sich mit der Frau ihres Bruders immer gut verstanden; sie würde Kabutri gut behandeln, das wusste Diti. So gesehen, schien es reine Selbstsucht, wenn sie am Leben bliebe. Sie würde dann nur dem Glück ihrer Tochter im Wege stehen.
    Einige Tage später – Hukam Singhs Zustand verschlechterte sich zusehends – erfuhr sie, dass einige entfernte Verwandte in ihr Heimatdorf reisen wollten. Auf ihre Bitte erklärten sie sich sogleich bereit, ihre Tochter mitzunehmen und sie zu ihrem Bruder Havildar Kesri Singh, dem Sepoy, zu bringen. Das Boot sollte in wenigen Stunden fahren, und der Zeitdruck half Diti, tränenlos und gefasst zu bleiben, während sie Kabutris wenige dürftige Kleidungsstücke zu einem Bündel schnürte. Ihre letzten Schmuckstücke, einen Fußring und einen Armreif, band sie ihrer Tochter auf den Leib und wies sie an, sie ihrer Tante zu übergeben: »Sie wird sie für dich aufbewahren.«
    Kabutri war hocherfreut über die Aussicht, ihre Cousinen und Cousins zu besuchen und in einem Haus voller Kinder zu leben. »Wie lange bleibe ich dort?«, fragte sie.
    »Bis es deinem Vater wieder besser geht. Dann komme ich dich holen.«

    Als das Boot mit Kabutri abfuhr, war es Diti, als wäre ihre letzte Verbindung zum Leben abgerissen. Von diesem Augenblick an gab es für sie kein Zögern mehr. Mit der ihr eigenen Sorgfalt begann sie ihr Ende zu planen. Vom Feuer der Leichenverbrennung verzehrt zu werden war die geringste ihrer Ängste: Einige Mundvoll Opium würden dafür sorgen, dass sie den Schmerz nicht spürte.

SIEBTES KAPITEL
    N och bevor er die Papiere durchsah, die Zachary ihm gegeben hatte, wusste Babu Nob Kissin schon, dass sie das Zeichen enthielten, das ihm bestätigen würde, was ihm in seinem Herzen bereits klar war. Er vertraute so fest darauf, dass er auf der Rückfahrt von Bethel in seiner Kutsche schon von dem Tempel träumte, den er für Ma Taramony zu errichten gelobt hatte. Er würde am Rand eines Wasserlaufs stehen, mit einem hohen safranfarbenen Turm. Auf dem großen, gepflasterten Platz vor dem Eingang würden sich zahlreiche Gläubige versammeln können zum Tanzen, Singen und Beten.
    In just einem solchen Tempel, sechzig Meilen nördlich von Kalkutta, hatte Nob Kissin Babu einen großen Teil seiner Kindheit verbracht. Sein Familientempel stand in der Stadt Nabadvip, einem Hort der Frömmigkeit und Gelehrsamkeit, der dem Andenken von Chaitanya Mahaprabhu gewidmet war, einem Heiligen, Mystiker und Anhänger Krishnas. Ein Urahn des Gumashtas, elf Generationen zurück, war der Legende nach einer der ersten Jünger des Heiligen gewesen. Er hatte den Tempel gegründet, der seither stets von seinen Nachkommen gepflegt und gehütet worden war.

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