Das mohnrote Meer - Roman
Sprache. Die Zinsen waren so hoch, dass sich der geschuldete Betrag alle sechs Monate verdoppeln würde. In ein paar Jahren würde ihr gesamtes Land
verloren sein. Da wollte sie lieber Unkraut essen, doch als sie die Sachen zurückgeben wollte, war es zu spät. »Ich habe Ihren Daumenabdruck«, sagte der Seth hämisch. »Da ist nichts mehr zu machen.«
Auf der Heimfahrt saß Diti sorgengebeugt da und vergaß, Kalua zu bezahlen; bis sie daran dachte, war er längst weg. Aber warum hatte er nichts gesagt? War es schon so weit gekommen, dass ein aasessender Ochsenhalter Mitleid mit ihr hatte?
Wie nicht anders zu erwarten, gelangte die Nachricht von ihrer Notlage über die Felder zu Chandan Singh, und er erschien mit einem Sack nahrhaftem satuā vor ihrer Tür. Um ihrer Tochter, nicht um ihrer selbst willen konnte Diti nicht ablehnen, aber nachdem sie den Sack angenommen hatte, konnte sie ihren Schwager auch nicht mehr mit derselben Entschiedenheit wie früher verabschieden. Von da an drang Chandan Singh immer häufiger in ihr Haus ein, stets unter dem Vorwand, nach seinem Bruder sehen zu wollen. Bisher hatte er sich nicht im Mindesten für Hukam Singhs Zustand interessiert, doch nun bestand er auf seinem Recht, das Haus zu betreten und am Bett des Bruders zu sitzen. Kaum war er jedoch zur Tür herein, beachtete er Hukam Singh nicht mehr und hatte nur noch Augen für Diti. Schon im Hereinkommen streifte er mit der Hand an ihrem Schenkel entlang. Saß er dann bei seinem Bruder auf dem Bett, betrachtete er sie und spielte durch die Falten seines Dhotis hindurch an sich herum. Kniete Diti sich hin, um Hukam Singh zu füttern, beugte er sich so nahe zu ihr, dass seine Knie oder seine Ellenbogen ihre Brüste streiften. Seine Annäherungsversuche wurden so aggressiv, dass Diti ein kleines Messer zwischen den Falten ihres Saris versteckte, aus Angst, er könnte auf dem Bett ihres Mannes über sie herfallen.
Der Angriff kam, aber es war kein körperlicher Angriff, sondern vielmehr ein Eingeständnis und ein Streit. Im selben Raum, in dem ihr Mann auf seinem Bett lag, drängte er sie in die Ecke und sagte: »Hör zu, Kabutri- kī-mā . Du weißt doch ganz genau, wie deine Tochter gezeugt wurde. Wozu die Heuchelei? Ohne mich wärst du heute kinderlos.«
»Sei still!«, rief sie. »Ich will kein Wort mehr hören.«
»Aber es ist die Wahrheit!« Er nickte verächtlich zum Bett seines Bruders hin. »Der hätte es damals genauso wenig gekonnt wie heute. Ich war’s und niemand sonst. Und deswegen sage ich dir: Wär’s nicht das Beste für dich, du tust jetzt freiwillig, was du damals ohne dein Wissen getan hast? Dein Mann und ich sind schließlich Brüder, vom selben Fleisch und Blut. Was ist schon dabei? Wieso solltest du deine Jugend an einen Mann verschwenden, der nichts davon hat? Außerdem wird Hukam Singh nicht mehr lange am Leben sein. Wenn du einen Sohn empfängst, solange er noch lebt, wird er rechtmäßiger Erbe seines Vaters sein. Hukam Singhs Land wird auf ihn übergehen, und niemand wird das anfechten können. So wie die Dinge jetzt liegen, werden Land und Haus meines Bruders nach seinem Tod mir gehören. Wer das Land besitzt, der besitzt den Reis. Und wenn ich hier Herr im Haus bin, wie willst du dann ohne mein Wohlwollen zurechtkommen?«
Er wischte sich mit dem Handrücken die Mundwinkel. »Das war’s, was ich dir sagen wollte, Kabutri- kī-mā . Warum nicht jetzt freiwillig tun, wozu du demnächst sowieso gezwungen sein wirst? Begreifst du nicht, dass ich dir das Beste anbiete, was du dir für die Zukunft erhoffen kannst? Wenn du mich zufriedenstellst, wird gut für dich gesorgt sein.«
Diti musste insgeheim zugeben, dass dieser Vorschlag nicht unvernünftig war, aber ihr Abscheu vor ihrem Schwager hatte mittlerweile Ausmaße angenommen, die es ihr unmöglich
machten, ihren Körper einem solchen Handel zu unterwerfen. Und so folgte sie ihrem Gefühl, stieß Chandan Singh den Ellenbogen in die knochige Brust und schob ihn zur Seite, zog sich den Sari übers Gesicht, sodass gerade noch die Augen frei blieben, und hielt den Stoff mit ihren Zähnen fest. »Was für ein Teufel«, sagte sie, »kann vor seinem eigenen sterbenden Bruder so sprechen? Hör mir gut zu: Lieber will ich auf dem Scheiterhaufen meines Mannes verbrennen, als mich dir hinzugeben.«
Er trat einen Schritt zurück, und sein schlaffer Mund kräuselte sich zu einem spöttischen Lächeln. »Worte kosten nichts«, sagte er. »Glaubst du vielleicht,
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