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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Mitgift für Taramonys Einkerkerung in Vrindavan mitgenommen hatten. Zusammen ergab das eine recht ansehnliche Summe, die es ihnen ermöglichte, ein Haus in Ahiritola, einem billigen Hafenviertel, zu mieten. Dort schlugen sie ihren Wohnsitz auf und gaben nie vor, etwas anderes zu sein, als sie tatsächlich waren, eine verwitwete Frau mit ihrem Neffen. Es nahm auch nie jemand Anstoß, denn Taramonys Frömmigkeit war so offenkundig, dass sie schon bald einen kleinen Kreis von Anhängern um sich scharte. Nob Kissin hätte nichts lieber getan, als sich diesem Kreis anzuschließen. Sie »Ma« zu nennen, als ihr Schüler angenommen zu werden, seine Tage damit zu verbringen, dass er spirituelle Unterweisung von ihr erhielt. Darauf war sein ganzes Denken und Trachten gerichtet, doch sie ließ es nicht zu. »Du bist anders als die anderen«, sagte sie zu ihm, »deine Mission ist eine andere. Du musst in die Welt hinausgehen und Geld verdienen, nicht nur für unseren Unterhalt, sondern auch als Grundstock für den Tempel, den du und ich eines Tages errichten werden.«
    Auf ihr Geheiß begab sich Kissin in die große Stadt hinaus,
wo sein Scharfsinn und seine Klugheit nicht lange unbemerkt blieben. Als Angestellter eines Geldverleihers in Rajabazar stellte er fest, dass die Buchführung für einen Mann seiner Bildung keine große Herausforderung war. Als er sich firm darin fühlte, kam er zu dem Schluss, dass es am günstigsten für sein Fortkommen wäre, wenn er eine Anstellung in einer der vielen englischen Firmen der Stadt fände. Zu diesem Zweck absolvierte er Lehrgänge im Haus eines tamilischen Dubash, eines Übersetzers, der bei Gillanders & Company, einem großen Handelskontor, arbeitete. Schon bald gehörte Kissin zu den besten Schülern der Gruppe und reihte mit einer Gewandtheit Sätze aneinander, die seinen Lehrer ebenso in Erstaunen setzte wie seine Mitschüler.
    Eine Empfehlung führte zur anderen, eine Anstellung zur nächsten. Nachdem er bei Gillanders als Serishta angefangen hatte, stieg Nob Kissin nacheinander zum Karkun in der Swinhoe-Fabrik, zum Karani bei Jardine & Matheson, zum Munshi bei Ferguson Bros. und zum Mutsaddi bei Smoult & Sons auf. Von dort aus fand er den Weg in die Kontore von Burnham Bros., wo er schon bald zum Gumashta befördert und mit dem Transport von Kontraktarbeitern betraut wurde.
    Doch Babu Nob Kissins Arbeitgeber schätzten ihn nicht nur wegen seines Scharfsinns und seines fließenden Englisch, sondern auch wegen seiner Dienstbeflissenheit und seiner schier grenzenlosen Duldungsfähigkeit. Im Gegensatz zu vielen anderen war er nie gekränkt, wenn ein Sahib ihn als hirnverbrannten Schwachkopf beschimpfte oder sein Gesicht mit einem Affenarsch verglich; wurden Schuhe oder Briefbeschwerer nach ihm geschleudert, wich er einfach aus, mit einer für einen Mann seiner Leibesfülle erstaunlichen Behändigkeit. Beleidigungen quittierte er mit einem distanzierten, beinahe nachsichtigen Lächeln. Aus der Fassung brachten ihn
nur Fußtritte eines Vorgesetzten, und das war nicht weiter verwunderlich, denn nach solchen Übergriffen musste er jedes Mal baden und die Kleider wechseln. Zweimal wechselte er sogar die Stelle, um Arbeitgebern zu entkommen, die allzu gern ihre Untergebenen irgendwohin traten. Das war auch einer der Gründe, weshalb er seinen derzeitigen Posten als besonders angenehm empfand: Mr. Burnham mochte ein anspruchsvoller Dienstherr und ein Sklaventreiber sein, doch er trat nie einen seiner Angestellten und fluchte auch nur selten. Zwar belegte er seinen Gumashta oft mit dem Spitznamen »Kissing Baboon«, doch im Allgemeinen vermied er derlei Vertraulichkeiten, wenn andere zugegen waren – und gegen »Baboon« konnte Babu Nob Kissin eigentlich nichts einwenden, war doch der Pavian ein Avatar des Affengottes Hanuman.
    Über der nutzbringenden Tätigkeit für seine Arbeitgeber vergaß Babu Nob Kissin aber keineswegs seine ureigenen Interessen. Da er sehr oft als Mittelsmann und Schlichter fungieren musste, hatte er sich im Lauf der Zeit einen großen Kreis von Freunden und Bekannten aufgebaut, von denen sich viele in finanziellen und persönlichen Fragen von ihm beraten ließen. Mit der Zeit entwickelte sich aus dieser Beratertätigkeit ein florierender Geldverleih, oft und gern in Anspruch genommen von besseren Leuten, die eine diskrete und verlässliche Darlehensquelle benötigten. Manche suchten bei ihm auch Hilfe in intimeren Angelegenheiten: Da er, außer beim Essen, in

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