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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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wiederzugeben, und sie blieb ihrem Entschluss treu. Sie lenkte nur so weit ein, dass sie ihn täglich einige Mundvoll akbarī -Opium kauen ließ. Das reichte zwar nicht aus, um ihn wieder auf die Beine zu bringen, aber es linderte seine Leiden, und für Diti war es eine Erleichterung, ihm in die Augen zu blicken und zu sehen, dass er den profanen Schmerzen der Welt entglitten war und sich in eine andere, strahlendere Wirklichkeit geflüchtet hatte, in der immer Holi war und der Frühling jeden Tag wiederkehrte. Wenn sie auf diese Weise die Witwenschaft hinauszögern konnte, sollte es ihr recht sein.
    Unterdessen musste sie sich auch um die Ernte kümmern. In Kürze musste jede Mohnkapsel einzeln angeritzt werden, dann musste der geronnene Saft abgeschabt, in irdenen Gefäßen gesammelt und in die Fabrik gebracht werden. Es war eine langwierige, mühselige Arbeit, unmöglich von einer Frau
und einem Kind allein zu schaffen. Ihren Schwager mochte Diti nicht um Hilfe bitten, und so musste sie Arbeiter anheuern, die mit einer Bezahlung in Naturalien nach Abschluss der Ernte einverstanden waren. Da sie immer wieder nach ihrem Mann sehen musste, konnte sie die Männer nicht so beaufsichtigen, wie sie es gern getan hätte, mit dem Ergebnis, dass ihr Ertrag an gefüllten gharās um ein Drittel geringer war als erwartet. Nachdem sie die Arbeiter bezahlt hatte, entschied sie, dass es unklug sei, die Auslieferung der Krüge irgendjemandem anzuvertrauen, und ließ stattdessen Kalua ausrichten, er möge mit seinem Ochsenkarren kommen.
    Den Plan, vom Erlös ihres Mohns das Dach ausbessern zu lassen, hatte Diti inzwischen aufgegeben; sie war schon zufrieden, wenn sie genug verdiente, um ausreichend Vorräte anzulegen; vielleicht blieben noch eine oder zwei Handvoll Kauris für sonstige Ausgaben übrig. Bestenfalls, das wusste sie, würde sie ein paar Silberrupien von der Fabrik bekommen und mit etwas Glück – je nach den Preisen auf dem Basar – noch zwei oder drei Kupfer- damrīs übrig behalten, vielleicht sogar einen adhelā , von dem sie einen neuen Sari für Kabutri kaufen konnte.
    Doch in der Fabrik wartete eine böse Überraschung auf sie. Nachdem ihre Opiumgefäße gewogen, gezählt und geprüft worden waren, zeigte man ihr das Kontobuch für Hukam Singhs Land, und es stellte sich heraus, dass ihr Mann zu Beginn der Saison einen weit höheren Vorschuss genommen hatte, als sie gedacht hatte. Der magere Erlös reichte kaum für die Rückzahlung seiner Schulden. Ungläubig schaute sie auf die verfärbten Münzen, die man ihr hinzählte. »Nur sechs dām für die ganze Ernte?«, rief sie aus. »Davon kann man ja nicht einmal ein Kind ernähren, geschweige denn eine Familie!«
    Der Schreiber am Schalter war Bengale, ein Mann mit hängenden Wangen und einem Katarakt von einer Stirn. Er
antwortete nicht in ihrer Sprache, dem Bhojpuri, sondern in einem affektierten, verstädterten Hindi. »Dann tun Sie, was andere auch tun«, blaffte er. »Gehen Sie zum Geldverleiher. Verkaufen Sie Ihre Söhne. Schicken Sie sie nach Marich. Etwas anderes bleibt Ihnen ohnehin nicht übrig.«
    »Ich habe keine Söhne, die ich verkaufen könnte«, sagte Diti.
    »Dann verkaufen Sie Ihr Land«, antwortete der Mann gereizt. »Ihr kommt hier immer an und redet von Hunger, aber hat man je einen Bauern verhungern sehen, hm? Ihr jammert nur gern, immer dieses Theater mit euch …«
    Auf dem Rückweg beschloss Diti, trotzdem auf den Basar zu gehen. Da sie nun schon Kaluas Wagen gemietet hatte, war es unsinnig, ohne Vorräte heimzukehren. Doch wie sich zeigte, konnte sie sich nicht mehr leisten als einen Zweimoundsack Bruchreis, dreißig Seer billigste Arhar-Bohnen, ein paar tolā Senföl und einige Chittack Salz. Ihre Sparsamkeit ließ den Ladenbesitzer, der auch ein bedeutender Seth und Geldverleiher war, nicht kalt. »Was ist passiert, o meine Schwägerin?« , fragte er mit gespielter Besorgnis. »Brauchen Sie ein paar schöne, blanke Benares-Rupien, um bis zur shrāvan -Ernte über die Runden zu kommen?«
    Diti lehnte das Angebot ab, doch dann dachte sie an Kabutri. Das Mädchen würde nur noch wenige Jahre zu Hause sein – sollte sie diese Zeit hungrig verbringen? Und so erklärte Diti sich bereit, im Tausch gegen Weizen, Öl und gur für ein halbes Jahr ihren Daumenabdruck im Kontobuch des Seths zu hinterlassen. Erst im Hinausgehen dachte sie daran, nach der Höhe des Kredits und der Zinsen zu fragen. Die Antwort des Kaufmanns verschlug ihr die

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