Das mohnrote Meer - Roman
Nob Kissin selbst war einmal ausersehen gewesen, seinem Onkel als Wächter des Tempels nachzufolgen, und als Kind war er durch gründliche Unterweisung in Sanskrit und Logik sowie in der Ausübung von Riten und Ritualen sorgfältig auf diese Aufgabe vorbereitet worden.
Als Nob Kissin vierzehn Jahre alt war, erkrankte sein Onkel. Der alte Mann ließ den Jungen an sein Bett rufen und erlegte ihm eine letzte Pflicht auf. Seine Tage seien gezählt, sagte er, und es sei sein Wunsch, dass seine junge Frau Taramony in einen Ashram der heiligen Stadt Vrindavan geschickt werde, um dort ihre Witwenjahre zu verbringen. Da die Reise schwierig und gefährlich sei, möge er, Nob Kissin, sie persönlich dorthin geleiten, bevor er seine Pflichten im Familientempel antrete.
»So wird es geschehen«, sagte Nob Kissin und berührte die Füße seines Onkels. »Mehr brauchst du nicht zu sagen.«
Ein paar Tage darauf starb der alte Mann, und kurz danach brach Nob Kissin mit seiner verwitweten Tante und einem kleinen Gefolge von Bediensteten nach Vrindavan auf. Obgleich er das übliche Heiratsalter schon weit hinter sich hatte, war er noch immer ein brahmachārī – keusch und unverheiratet –, wie es sich für einen Schüler gehörte, der sich den Strapazen einer altmodischen Ausbildung unterzog. Die Witwe war nicht wesentlich älter als er, denn ihr verstorbener Mann hatte sie, in einem letzten Versuch, einen Erben zu zeugen, erst vor sechs Jahren geheiratet. In dieser Zeit hatte Nob Kissin selten Gelegenheit gehabt, mit seiner Tante zu sprechen, denn er lebte über lange Zeitspannen bei seinen Gurus, in deren tols , pāthshālās und Ashrams. Doch nun, auf ihrer gemächlichen Reise gen Westen, nach Vrindavan, konnte es nicht ausbleiben, dass Neffe und Tante viel Zeit miteinander verbrachten. Dass seine Tante eine ungemein charmante und attraktive Frau war, hatte Nob Kissin schon immer gewusst, doch jetzt stellte er zu seinem großen Erstaunen fest, dass sie auch ein Mensch von außergewöhnlicher spiritueller Vollendung war, erfüllt von tiefem Glauben: Sie sprach vom Lotosäugigen Herrn, als hätte sie persönlich die Gnade seiner Gegenwart erfahren.
Als Schüler und brahmachārī hatte Nob Kissin gelernt, sich von allen sinnlichen Gedanken abzuwenden; in seiner Erziehung war der Zurückhaltung des Samens so große Bedeutung beigemessen worden, dass es kaum einer Frau gelang, seine seelischen Schutzmauern zu überwinden. Doch nun, da sie zu Wasser und zu Lande in den verschiedensten Fahrzeugen Vrindavan entgegenschwankten oder -ratterten, bröckelten seine Verteidigungswälle. Niemals, nicht ein einziges Mal erlaubte ihm Taramony, sie auf unkeusche Art zu berühren, und doch überfiel ihn in ihrer Anwesenheit ein Zittern, das sich bisweilen zu einem regelrechten körperlichen Anfall steigerte. Hinterher war er stets durchnässt und tief beschämt. Anfangs war er lediglich verwirrt und wusste sich nicht zu erklären, was ihm da widerfuhr. Dann begriff er, dass seine Gefühle für seine Tante nur eine profane Version dessen waren, was sie selbst für den göttlichen Geliebten ihrer Visionen empfand. Und ihm wurde auch klar, dass nur ihr Beistand ihn von der Knechtschaft seiner irdischen Begierden erlösen konnte.
»Ich kann niemals von deiner Seite weichen«, sagte er zu ihr. »Ich kann dich in Vrindavan nicht verlassen. Lieber sterbe ich.«
Sie lachte und sagte, er sei ein törichter, eitler Mensch; ihr einziger Mann sei Krishna, der einzige Geliebte, den sie je haben werde.
»Einerlei«, erwiderte Nob Kissin. »Du wirst mein Krishna sein, und ich werde deine Radha sein.«
Ungläubig fragte sie: »Und du wirst mit mir leben, ohne mich je zu berühren, ohne meinen Körper zu kennen, ohne eine andere Frau zu kennen?«
»Ja«, sagte er. »Ist es nicht auch mit dir und Krishna so? War nicht auch der Mahaprabhu so?«
»Und was ist mit Kindern?«
»Hatte Radha Kinder? Oder irgendeiner der Vaishnava-Heiligen?«
»Und deine Pflichten gegenüber deiner Familie? Gegenüber dem Tempel? Was ist mit alldem?«
»All diese Dinge kümmern mich nicht«, erwiderte er. »Du wirst mein Tempel sein und ich dein Priester, dein Verehrer, dein Jünger.«
Als sie die Stadt Gaya erreichten, willigte sie ein: Sie entfernten sich heimlich von ihren Bediensteten, kehrten um und fuhren nach Kalkutta.
Sie waren zwar fremd in der Stadt, doch sie standen nicht mittellos da. Nob Kissin hatte noch den Rest ihrer Reisekasse sowie das Geld, das sie als
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