Das mohnrote Meer - Roman
jeder Hinsicht enthaltsam lebte, betrachtete Babu Nob Kissin die fleischlichen Gelüste anderer mit der distanzierten Neugier eines Astrologen, der den Lauf der Gestirne verfolgt. Er war stets aufmerksam zu den Frauen, die seinen Beistand suchten, und sie schenkten ihm leichten Herzens ihr Vertrauen, weil sie wussten, dass seine Verehrung für Taramony
ihn davon abhalten würde, seinen eigenen Vorteil zu suchen. So kam es auch, dass Elokeshi mit der Zeit einen nachsichtigen, gütigen Onkel in ihm sah.
Doch bei allem Erfolg gab es einen großen Kummer im Leben des Gumashtas: Die Offenbarung göttlicher Liebe, die er sich von der Gemeinschaft mit Taramony erhofft hatte, war ihm wegen der Anforderungen, die seine Karriere an ihn stellte, versagt geblieben. Das Haus, das er sich mit ihr teilte, war groß und komfortabel, doch wenn er abends heimkam, fand er sie meist von Schülern und Jüngern umlagert. Diese Leute lungerten oft bis spät in die Nacht im Haus herum, und morgens, wenn der Gumashta sich auf den Weg ins Büro machte, schlief seine Tante meist noch.
»Ich habe so hart gearbeitet«, sagte er oft zu ihr. »Ich habe viel Geld verdient. Wann wirst du mich vom weltlichen Leben entbinden? Wann wird die Zeit kommen, unseren Tempel zu bauen?«
»Bald«, erwiderte sie dann. »Aber jetzt noch nicht. Wenn es so weit ist, wirst du es wissen.«
Solcherart waren ihre Versprechungen, und Babu Nob Kissin vertraute fest darauf, dass sie zu einem von ihr gewählten Zeitpunkt eingelöst werden würden. Doch eines Tages – der Tempel stand noch immer nicht – wurde sie von einem verzehrenden Fieber befallen. Zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten ging Babu Nob Kissin nicht zur Arbeit. Er trieb Ma Taramonys Schüler und Anhänger aus dem Haus und pflegte seine Tante selbst. Als er sah, dass seine Hingabe nichts gegen ihre Krankheit vermochte, bat er sie: »Nimm mich mit. Lass mich nicht allein in dieser Welt zurück. Außer dir ist mir nichts auf dieser Welt teuer. Mein Leben ist eine einzige Leere, eine Ewigkeit vergeudeter Zeit. Was soll ich ohne dich auf dieser Erde anfangen?«
»Du wirst nicht auf dich allein gestellt sein«, versprach sie ihm. »Und deine Arbeit auf dieser Welt ist noch nicht getan. Du musst dich bereit machen, denn dein Körper wird das Gefäß für meine Rückkehr sein. Eines Tages wird mein Geist sich in dir manifestieren, und dann werden wir beide, in Krishnas Liebe verbunden, die vollkommenste Einheit erlangen – du wirst zu Taramony werden.«
Ihre Wort entzündeten eine wild auflodernde Hoffnung in seinem Herzen. »Wann wird dieser Tag kommen?«, rief er. »Woran werde ich ihn erkennen?«
»Es wird Zeichen geben«, sagte sie. »Du musst darauf achten, denn die Anzeichen können dunkel und unerwartet sein. Doch wenn sie sich zeigen, darfst du nicht zögern noch zagen: Du musst ihnen folgen, wohin immer sie dich führen, und sei es übers Meer.«
»Gibst du mir dein Wort darauf?«, fragte er und fiel auf die Knie. »Versprichst du mir, dass es nicht zu lange dauern wird?«
»Du hast mein Wort«, erwiderte sie. »Eines Tages werde ich mich in dich ergießen. Aber bis dahin musst du dich noch gedulden.«
Doch wie lange war das her! Neun Jahre und fünfzig Wochen waren seit ihrem Tod schon vergangen, und er hatte sein gewohntes Leben weitergeführt in der Kleidung des viel beschäftigten Gumashtas, der immer härter und härter arbeitete, wiewohl er der Welt und seines Berufs immer überdrüssiger wurde. Als der zehnte Jahrestag ihres Todes herannahte, hatte er begonnen, um seinen Verstand zu fürchten, und den Entschluss gefasst, dass er, sollte der Tag verstreichen, ohne dass sich irgendein Zeichen manifestierte, der Welt entsagen und nach Vrindavan gehen würde, um fortan das Leben eines Bettelmönchs zu führen. Und noch während er dieses Gelöbnis tat, erfasste ihn die Überzeugung, dass der Moment unmittelbar
bevorstand, die Manifestation sich nun einstellen würde. Er war sich seiner Sache so sicher, dass er keinerlei Angst oder Unruhe mehr verspürte: Ruhig, ohne Hast, entstieg er seiner Kutsche und trug die Schiffsbücher in sein stilles, leeres Haus. Er breitete die Papiere auf dem Bett aus, blätterte sie eines nach dem anderen durch, bis er zur Mannschaftsrolle des Schoners kam. Als er den Vermerk »schwarz« neben Zacharys Namen sah, stieß er keinen Freudenschrei aus. Vielmehr ließ er den Blick mit einem leisen Seufzer des Entzückens auf dem hingekritzelten Wort verweilen, das
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