Das Moor Des Vergessens
Kopf. »Es gibt dort seit Ewigkeiten keine Farm mehr, Mum. Es ist eine Wohnsiedlung aus den sechziger Jahren. Beton so weit das Auge reicht.«
Enttäuschung trat auf das Gesicht ihrer Mutter. »Ach. Na ja, wenigstens hast du ein Dach über dem Kopf.« Dabei beließen sie es. Jane kannte ihre Mutter gut genug, um sich darüber klar zu sein, dass sie die Wahrheit gar nicht wissen wollte. Jane erfüllte nämlich so wenige der erforderlichen Bedingungen, dass die einzige Wohnung, die die Wohnungsbehörde ihr anbieten würde, genau einer solchen Behausung entsprach, in der sie gelandet war. Ein Hasenstall, für den kaum ein Mieter zu finden war, in einer heruntergekommenen Siedlung im East End, wo fast niemand legale Arbeit hatte, wo Tag und Nacht die Kinder ohne Aufsicht herumtobten und wo es mehr gebrauchte Kondome und Spritzen gab als Grashalme. Nein, Judy Gresham würde sich auf keinen Fall vorstellen wollen, dass ihre Tochter an einem solchen Ort lebte. Von allem anderen abgesehen, würde es ja auch die Möglichkeiten sehr einschränken, mit Jane und ihrem Erfolg anzugeben.
Aber ihrem Bruder Matthew hatte sie es erzählt. Alles war ihr recht, um die Bitterkeit zu dämpfen, die er empfand, weil sie diejenige war, die es geschafft hatte, wegzugehen, während er, wie er sich ausdrückte, im hinterletzten Kaff verschimmelte, wo ja wegen der Eltern jemand bleiben musste. Es spielte dabei keine Rolle, dass er als der Ältere zuerst ausgeflogen war, studiert und dann beschlossen hatte, zu der Arbeit zurückzukommen, die er sich immer schon gewünscht hatte. Matthew, dachte Jane, war einfach schon beleidigt zur Welt gekommen.
Das Ironische daran war, dass Jane London sofort gegen Fellhead eingetauscht hätte, wenn sie dort die geringste Chance gehabt hätte, der Arbeit nachzugehen, die sie liebte. Aber es gab im Lake District keine Stellen für Akademiker, nicht einmal für eine Wordsworth-Spezialistin wie sie. Höchstens wenn sie die streng wissenschaftliche Forschung gegen Vorträge in Schulen über die Dichter des Lakeland eingetauscht hätte. Doch bestimmt hätte nichts anderes ihre Liebe zum Wort schneller zerstört. Also saß sie hier im schlimmsten städtischen Inferno fest. Jane drückte das Kinn auf die Brust, als sie über die Galerie zum Treppenhaus ging. Die Bauweise ihres Blocks konnte sie nur einer bösartigen Laune des Architekten zuschreiben, denn der Wind aus der meistens vorherrschenden Richtung pfiff so über die Fußwege, dass einem selbst die sanfteste Sommerbrise stürmisch und unangenehm vorkam. An diesem regnerischen Herbsttag fegte der Wind in jede Ecke und jeden Winkel des Gebäudes und drang in die Kleider der Bewohner, die sich aus ihren Wohnungen herauswagten.
Jane wandte sich dem Treppenhaus zu und hatte kurz Ruhe vor ihm. Mit dem Aufzug fahren zu wollen war sinnlos. Sie ignorierte die Graffiti mit den vielen Rechtschreibfehlern,
die unappetitlichen Abfallhäufchen, die vom Wind in die Ecken geweht worden waren, und den Gestank von Fäulnis und Urin und ging die Treppe hinunter. An der ersten Biegung drehte es Jane fast den Magen um. Der Anblick war ihr so vertraut, dass sie eigentlich daran hätte gewöhnt sein müssen, aber jedesmal, wenn sie die kleine Gestalt im wackeligen Lotossitz drei Stockwerke höher auf dem schmalen Treppengeländer sitzen sah, zitterten ihr die Knie. »He, Jane«, rief die kleine Gestalt leise. »Hallo, Tenille«, antwortete Jane und zwang sich trotz ihrer Angst zu einem Lächeln.
Tenille streckte die Beine aus und ließ sich mit todesverachtender Lässigkeit auf den feuchten Beton neben Jane gleiten. »Weißte was Neues?«, fragte die Dreizehnjährige, während sie neben ihr herging.
»Ich weiß nur, dass ich zu spät zur Arbeit komme, wenn ich mich nicht beeile«, sagte Jane, beschleunigte ihre Schritte und lief die Treppe hinunter. Tenille ging genauso schnell, und ihre langen Dreadlocks hüpften auf ihren schmalen Schultern.
»Ich komm mit«, sagte Tenille und versuchte mit recht kümmerlichem Erfolg den großspurigen Gang der kleinen Gangster nachzuahmen, die sich im Labyrinth dieser trostlosen Siedlung herumtrieben und ihr Gewerbe von älteren Brüdern, Cousins oder sonst irgendjemandem lernten, der es geschafft hatte, lange genug außerhalb der Knastmauern zu bleiben, um es ihnen beizubringen.
»Ich hör mich nicht gern wie 'ne alte spießige Nervensäge an, Tenille, aber solltest du nicht in der Schule sein?« Es war Janes üblicher Spruch, und sie
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