Das Moor Des Vergessens
wusste die Antwort schon im Voraus.
»Die Lehrer ham mir nix zu sagen«, antwortete Tenille automatisch und machte noch größere Schritte, um mit Jane mithalten zu können, als sie die Straße erreichten. »Was wissen die schon von meinem Leben?«
Jane seufzte. »Ich hab's so satt, Tenille, immer wieder das Gleiche von dir zu hören. Du bist doch viel zu intelligent, um dich mit dem Mist abzufinden, der auf dich zukommt, wenn du keine Ausbildung hast.«
Tenille steckte die Hände in die Taschen ihrer dünnen Jacke aus Lederimitat und zuckte abwehrend die schmalen Schultern. »Ach, scheiß drauf«, sagte sie. »Ich will doch kein Brutkasten für so 'n kleenen Scheißer sein. So 'n Baby-Mamma-Drama is nix für Tenille.«
Sie passierten einen Durchgang unter dem Wohnblock und kamen neben einer Schnellstraße wieder heraus, wo Autos vorbeirasten, deren Fahrer sich freuten, endlich aus dem zweiten Gang hochschalten zu können, sodass die Reifen auf dem nassen Asphalt zischten. »Schwer, sich vorzustellen, wie du das vermeiden willst, wenn du deinen Kopf nicht anstrengst«, sagte Jane trocken und hielt gebührenden Abstand von der Straße und den vorbeifahrenden, spritzenden Fahrzeugen.
»Ich will so sein wie du, Jane.« Dies war ein Wunsch, den Jane schon unzählige Male von Tenille gehört hatte. »Dann geh in die Schule«, sagte sie und versuchte, ihre Frustration zu verbergen.
»Ich hasse das sinnlose Zeug, was wir dort machen müssen«, sagte Tenille und verzog die Lippen zu einem spöttischen Grinsen, das ihr unbefangenes nettes Gesicht zu einer starren verächtlichen Maske machte. »Es ist nicht so wie die Sachen, die du mir zu lesen gibst.« Ihre Ausdrucksweise hatte sich vom Straßenslang zu vorschriftsmäßigem Englisch gewandelt, als erlaube ihr das Verlassen der Siedlung, ihre Rolle abzustreifen und sich als normaler Mensch zu geben. »Das ist mir klar. Aber auch ich habe mein Ziel noch nicht erreicht, weißt du. Als ich angefangen habe, wollte ich eigentlich nicht in Bars und Seminarräumen jobben, während ich mein Buch schreibe, damit ich eine richtige Stelle bekommen kann. Aber um auch nur so weit zu kommen, musste ich den gleichen Mist durchmachen. Und es stimmt, ich betrachte den größten Teil davon als Mist«, fuhr sie fort und übertönte damit, was immer Tenille noch hatte einwenden wollen. Sie wünschte, sie könnte ihr etwas anderes als Plattitüden bieten, aber sie wusste nicht, was sie einer dreizehnjährigen Waise mit dunkler Haut sagen sollte, die Wordsworth, Coleridge, Shelley und De Quincey nicht nur verehrte, sondern auch die Bedeutung ihrer Werke mit einer Leichtigkeit erfasste, die zu erreichen Jane selbst zehn Jahre konzentrierten Studiums gekostet hatte.
Tenille wich einem Kinderwagen aus, in dem ein Kleinkind mit schokoladebeschmiertem Mondgesicht und einem Schnuller im Mund lag, der wie ein Stöpsel die Luft zu stoppen schien, damit die dicken Backen aufgeblasen blieben. Die junge Frau, die den Kinderwagen schob, wirkte nicht viel älter als Tenille. »So was schaff ich einfach nicht, Jane«, sagte Tenille niedergeschlagen. »Vielleicht könnte ich irgendwas anderes mit Versen machen. Rappen wie Ms. Dynamite«, fügte sie hinzu, klang aber nicht sehr überzeugt. Sie wussten beide, dass es nie so weit kommen würde. Außer wenn jemand eine Droge zur Hebung des Selbstbewusstseins erfände, die Jane ihr spritzen könnte, bevor sie dem Heroin verfiel, das die halbe Siedlung als Beruhigungsmittel zu nehmen schien. Jane blieb an der Bushaltestelle stehen und wandte sich Tenille zu. »Niemand kann dir die Worte in deinem Kopf wegnehmen«, sagte sie.
Tenille zupfte an einem abgekauten Fingernagel und starrte auf den Gehweg. »Meinst du, das weiß ich nicht?«, schrie sie beinahe. »Wie sonst meinst du, verdammt noch mal, schaffe ich es, zu überleben?« Plötzlich drehte sie sich auf den Fußballen um, lief weg und sprang mit überraschend eleganten Bewegungen wie eine Gazelle den unebenen Bürgersteig entlang. Sie verschwand in einer Gasse, und Jane empfand die gewohnte Mischung aus herzlicher Zuneigung und Frust. Während der zehn Minuten Busfahrt dachte sie weiter darüber nach, und der Gedanke verfolgte sie immer noch, als sie die Tür der Weinbar aufstieß.
Fünf Minuten vor zwölf wirkte die Viking Bar kahl und leer. Das helle Holz, Glas und Chrom glänzten unter den Halogenleuchten, ein Zeichen, dass noch niemand da gewesen war, seit die Putzfrau nach Hause gegangen war. Harry
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